Читать книгу Spurlos - Emil Zopfi - Страница 5
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Sie trug seine Asche auf den Berg. Es war Frühling, noch lag Schnee in den Mulden der Alp. Der Himmel blass. Stille.
Sie hörte nur ihren Atem und ihre Schritte in den nassen Stauden der Alpenrosen und später, während sie über die Geröllhalden anstieg, das Knirschen des Schotters unter den Sohlen. Musik, tausendmal gehört, der Klang des Bergs.
Ihr Vater war gestorben, als sie in Patagonien am Cerro Torre kletterte. Per Funk war die Meldung ins Camp gekommen, sie war sogleich abgereist. Obwohl es zu spät war für alles. Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt wie jeden Tag, war auf dem Sofa eingeschlafen. Sanft hinübergeschlummert, ohne Abschied und mit einem Lächeln im Gesicht, wie es seine Art war. Am gleichen Tag hatten sie am Cerro Torre ihren höchsten Punkt erreicht, zweihundert Meter unter dem Gipfel, dann war ein Sturm aufgezogen.
Auf dem Weg zur Hohen Platte, der unter den Wänden von Sila und Plattenburg nach Westen führt, fasste Andrea spontan den Entschluss, direkt durch die Westwand zu klettern. Es war noch kalt, aber das machte ihr nichts aus, in Patagonien hatte sie im Sturm härteste Seillängen geführt. Sie stieg an, über steilen Hartschnee einem Rinnsal folgend. Eine alte Route, die niemand mehr ging, brüchiger Fels, Schluchten, Bänder, Risse. Sie stieg schnell, Geröll löste sich unter ihren Schuhen, kollerte in die Tiefe. Das war Musik, Hard Rock. Die Route hatte sie längst verloren, sie kletterte in der Falllinie höher und höher, einer Reihe von Kaminen folgend, manchmal fast im Innern des Bergs, der sie umfing wie ein Mutterschoss.
Dann die Sonne, ein kurzer Blockgrat, eine Senke und dahinter der Gipfel mit dem schiefen Holzkreuz. Eine rostige Konservenbüchse steckte zwischen den Felsbrocken des Steinmanns, darin ein Notizbuch. Nur wenige Leute besuchten diesen Gipfel. Einsam und schwer zugänglich, passte er zu ihrem Vater. Sie ass einen Getreideriegel, trank Wasser, die Urne hatte sie neben sich auf die Steine gelegt. Ein Zylinder aus gebranntem Ton, sehr leicht. Das war von dem schweren Mann übrig geblieben. Sie hatte sich vorgenommen, die Urne vom Gipfel in den Abgrund zu schleudern, sie würde zerschellen, seine Asche in Klüften zerstäuben, die nie ein Mensch betrat. Sie hob die Urne auf, legte sie wieder hin. Sie brachte es nicht übers Herz, das Gefäss in die Tiefe zu schmettern. Irgendwie müsste ich Abschied nehmen vom alten Herrn, dachte sie, aber sie wusste nicht wie. Augen schliessen, sich nochmals an ihn erinnern, an das Schöne und Gute, und alles andere vergessen? Sie legte den Kopf auf die Knie und weinte leise.
Dann stieg sie über den Blockgrat gegen Süden ab, fand einen Spalt unter einem Felsabsatz, schob die Urne hinein und verschloss die Öffnung mit grossen Steinen.
«Auf Wiedersehen Robert», sagte sie, dann kletterte sie über Felsstufen hinab zu einem Ringhaken, zog das Seil ein und glitt hinab ins Joch. Es war Nachmittag, sie war keinem Menschen begegnet.