Читать книгу Spurlos - Emil Zopfi - Страница 15
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In der Kletterhütte deponierte Andrea Bohrhaken, Briden und das Werkzeug für den Klettersteig, machte Feuer im Herd für einen Kaffee. Sie blätterte durchs Hüttenbuch, stellte fest, dass sie die erste Besucherin im Jahr war. Die Hütte wurde kaum noch benutzt, die Solaranlage funktionierte nicht mehr. Die Bergführer von Pratt fuhren ihre Gäste mit einem Kleinbus am Morgen vor einer Tour auf die Alp, Hüttenromantik war nicht gefragt. Die Kletterfreaks übernachteten im Zelt oder im Freien. Küche und Schlafraum waren vergammelt, die Wolldecken zerwühlt, schmutziges Geschirr stand in der Spüle. Am Boden lagen Erdstücke aus Profilsohlen wie ausgestochenes Weihnachtsgebäck. Wahrscheinlich hatten Leute übernachtet, ohne die Taxe zu bezahlen.
Andrea holte einen Besen, wischte den Boden und faltete die Wolldecken. Eine Idee ging ihr durch den Kopf. Wenn sie die «Alpenrose» übernehmen würde, könnte sie die Hütte für ihre Kletterschule benutzen. Vielleicht würde sie eine zweite Bergführerin finden, die sich an Rock’n’Ice beteiligte. Immer mehr Frauen machten die Ausbildung. Die Zweizimmerwohnung in Pratt war ihr zu eng geworden, sie musste sich verändern. Wieder auf Reisen oder etwas Neues anpacken.
Während sie Kaffee trank und über ihre Zukunft nachdachte, vernahm sie Schritte auf den Steinplatten vor der Hütte. Jemand suchte nach dem Schlüssel, dann ging die Tür. Ein Bursche stand auf der Schwelle, einen Jägerhut mit schlappem Rand auf dem Kopf, sein grüner Faserpelz und die Bundhosen waren nass. Er trat ein mit Schuhen, an denen Gras und Erde klebte.
«Gib acht, ich habe geputzt!», sagte Andrea.
Der Junge stolperte einen Schritt rückwärts über die Schwelle. «Ist das Ihre Hütte?», nuschelte er. Eine schlecht vernarbte Hasenscharte verunstaltete seine Oberlippe.
«Noch nicht, aber bald», sagte Andrea so überzeugt, dass der Junge ohne ein weiteres Wort unter das Vordach zurücktrat, Hut und Faserpelz ausschüttelte und an einen Nagel hängte, der in der Hüttenwand steckte. Er zog seine Schuhe aus, trat in die Hütte in einem viel zu grossen Pullover mit geflickten Ellbogen. Seine nassen Socken hinterliessen Fussabdrücke auf dem Boden. Er suchte sich Hüttenschuhe aus dem Gestell, ging zum Herd und wärmte seine Hände vor dem Feuerloch.
«Woher kommst du bei dem Wetter?»
«Von drüben.»
«Übers Joch?»
Er nickte.
«Ohne Regenschutz?»
Seine Schultern zuckten, er schaute auf den Boden. «Am Morgen war’s noch besser.»
Andrea holte eine Tasse vom Gestell. «Magst Kaffee?»
Er murmelte etwas, das wie «ja, gerne» klang, setzte sich auf die Bank hinter den Tisch, verdeckte mit gefalteten Händen seine Hasenscharte.
«Ich bin Andrea.» Sie schenkte ein, schob ihm die Tube mit der Kondensmilch hin.
«Magnus.»
Er löffelte sich Zucker in den Kaffee, drückte Kondensmilch dazu, rührte andächtig. Sie wunderte sich, warum er übers Joch gekommen war, mochte ihn aber nicht ausfragen. Bei solchem Wetter kam niemand zum Vergnügen über die Grenze. Er musste sich auskennen, der Weg auf der Nordseite der Bergkette war noch mit Schnee bedeckt, steil und nicht einfach zu finden. Ein Bergsteiger war er nicht, seine Ausrüstung sah eher wie die eines Jägers oder Strahlers aus.
«Du kennst dich aus in der Gegend?»
«Bin aus dem Dorf.»
«Hab dich aber noch nie gesehen.»
Er schob die Tasse von sich, stand auf. «Danke. Muss jetzt.» Als er zur Tür ging, sah sie, dass sein Rücken einen leichten Buckel bildete. Deshalb schaute er immer auf den Boden.
«Du kannst mit mir fahren. Ich hab meinen Jeep auf der Alp.»
«Ich geh zu Fuss.»
«Na dann …»
Er stellte die Hüttenschuhe ins Gestell, trat ins Freie und schlüpfte in den Faserpelz.
Der Regen hatte nachgelassen, nasse Felsen schimmerten schwarz zwischen treibenden Nebelfetzen. Magnus kauerte nieder, schnürte seine Militärschuhe.
Andrea trat neben ihn. «Hast du in der Hütte übernachtet?»
Magnus hielt für einen Augenblick inne, dann nestelte er hastig und ungeschickt weiter. Seine Ohren liefen rot an.
«Du kannst es mir ruhig sagen.»
«Zwei- oder dreimal», presste er hervor, richtete sich auf, ohne den Schuh fertigzuschnüren, hängte sich den Armeerucksack an eine Schulter und eilte mit ungelenken Schritten den Weg hinab.
«Das nächste Mal räumst du auf», rief ihm Andrea nach. Er drehte sich nicht um, liess die Schnürsenkel um seine Knöchel schlenkern. Als er die Alpstrasse im Sattel erreichte, hielt er an, stellte einen Fuss auf einen Stein und band seine Schuhe richtig. Dann zog er einen Feldstecher aus dem Rucksack, richtete ihn zur Hütte. Andrea hob ihre Hand. Schnell drehte er sich weg und verschwand.