Читать книгу Spurlos - Emil Zopfi - Страница 11
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Andrea trat durchs Gartentor, blieb auf dem Plattenweg stehen, betrachtete das kleine Haus. Bald würde auch hier ein Schild hängen: Zu verkaufen. Ning suchte eine Wohnung, und sie selber würde nie zurückkehren. Zu viele Erinnerungen belasteten diesen Ort. Ihre Jugend, der Tod der Mutter, die sich nie wohl gefühlt hatte in der Stadt, der Vater, als Polizist immer unterwegs.
Sie hörte Stimmen. Die Haustür sprang auf, Ray stürzte heraus, Nings Sohn, die Schulmappe unterm Arm. «Andrea!» Er liess die Mappe fallen, sprang an ihr hoch, klammerte sich an ihren Hals mit seinen dünnen Armen und küsste sie heftig auf beide Wangen. «Ray, gross bist du geworden. Du wirfst mich um!»
«Du bist doch stark, Andrea!» Er lachte laut, küsste sie nochmals.
«Musst du nicht zur Schule?»
«Schule? Oh, ich komme zu spät!» Ray liess sie los, packte seine Mappe und hüpfte über die Platten davon. Seine Mundart klang, als hätte er nie irgendwo anders gelebt als in diesem Arbeiterquartier der Stadt. Das Hüpfen auf einem Bein über jede zweite Platte war ein Spiel, das ihm Andrea beigebracht hatte.
Ning lud sie zum Tee ein. In ihrem Gesicht war weder Trauer noch sonst ein Gefühl zu lesen. Sie trug kein Schwarz, das war in ihrer Heimat wohl nicht üblich. Wie immer zeigte sie ihre liebenswerte lächelnde Maske. Trotzdem glaubte Andrea, dass auch sie traurig war über Roberts plötzlichen Tod.
Nach dem Tee legte Andrea die Verträge des Maklers auf den Tisch, der das Haus verkaufen würde. Ning blätterte sie durch, stellte keine Fragen, unterschrieb, ohne zu zögern. Sie war mit allem einverstanden, was Andrea vorschlug. Ein Testament hatte Robert nicht verfasst, sie hatten beschlossen, nach Gesetz zu teilen. Die Hälfte die Tochter, die Hälfte die Ehefrau. Ein Glück, dass beiden Geld wenig bedeutete.
«Hast du eine Wohnung gefunden?», fragte Andrea.
«Wohnung und Arbeit.»
Ning half seit einiger Zeit in einem Hotel an der Rezeption aus, sie hatte gut Deutsch gelernt, sprach neben ihrer Muttersprache auch Englisch und etwas Chinesisch. Das Hotel offerierte ihr eine Teilzeitstelle. Andrea hatte das Gefühl, Roberts Tod habe sie von einer Last befreit, obwohl sie ihn sehr gern gehabt hatte. Seinen «Schutzengel» hatte er sie genannt, und ihren Sohn Ray den «Sonnenschein meines Alters».
Ihr Blick fiel auf das Sofa, auf dem ihr Vater eingeschlafen war. Es stammte aus der Aussteuer ihrer Mutter, die Federn hingen durch, der Lack der hölzernen Armlehnen war zerkratzt. Die Sitzbank, der Clubtisch, der Kachelofen mit der Messingtür, alles erinnerte sie an früher. Selbst der Geruch seiner Zigarren hing noch in den Vorhängen und Polstern. Sie raffte die Verträge zusammen und steckte sie in ihre Hängetasche.
Ning sah sie erstaunt an: «Du weinst ja.»
Ein heftiges Schluchzen hatte Andrea gepackt.
Ning reichte ihr ein Taschentuch. «Robert hat geraucht, viel.»
Es kam ihr vor, als habe Ning ihre Gedanken gelesen.
«Der Arzt hatte verboten.» Er hatte geraucht, trotz zwei Infarkten.
Ning schien irritiert, dass sie jetzt weinte, während sie bei Roberts Abdankung im Krematorium gefasst und ohne Tränen geblieben war. Andrea erzählte, dass sie seine Asche auf einen Berg getragen habe.
«Hast du zerstreut?»
«Ich hab’s nicht übers Herz gebracht.»
Ning lächelte. «Er ist immer nahe bei dir, wenn du auf den Berg steigst.»
«Ja, vielleicht.» Andrea wischte sich mit dem Papiertaschentuch die Augen, verabschiedete sich rasch, schritt über die Platten zum Gartentor. Dort blieb sie stehen, schaute zurück. Ning stand unter der Tür und winkte. In ihrem weiten Batikkleid sah sie aus wie ein Teenager.
Andrea kehrte nochmals um, umarmte Ning und küsste sie. Dann hüpfte sie auf einem Bein der Brombeerhecke entlang über den Plattenweg und schloss das Gartentor ein letztes Mal hinter sich.