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Den Weg war er noch nie gegangen. Unter schroffen Felswänden stieg er an gegen Westen. Er überquerte eine Runse mit einem Bach, dann wurde der Pfad steinig und schmal. Führte hart dem Abgrund entlang. Ein blauer Pfeil zeigte in eine Felskehle, die gegen den Grat hinaufzog. Die Wände glatt, ausgewaschen, der Grund mit Geröll gefüllt. Magnus stieg durch rutschigen Schotter und über eingeklemmte Blöcke hinweg bis in eine Scharte. Kalter Wind fuhr ihm ins Gesicht.

Er hatte gehofft, auf der Nordseite führe der Pfad hinunter ins Dorf jenseits der Grenze. Doch die Flanke fiel steil ab, war mit Schnee bedeckt. Keine Spur zu erkennen. Zwischen vorspringenden Felsblöcken schimmerte blaues Eis. Tief unten lag eine Ziegenalp im Schatten, das Dorf blieb in einem bewaldeten Kes sel versteckt.

Von der Scharte schwang sich der Grat auf wie der Bug eines Schiffes. Der Dreimastsegler der Waljäger in seinem Buch. Die Drahtseile und Eisenleitern auf dem Grat glitzerten in der Sonne. Mit dem Feldstecher hatte er schon Leute beobachtet, die da hochkletterten. Bedächtig stiegen sie, klinkten sich mit Karabinerhaken an die Seile. Es reizte ihn, hinaufzuklettern auf das steinerne Schiff. Doch er besass weder Seil noch Karabinerhaken, nur den alten Rucksack und die Militärschuhe.

Der Berg machte Angst. Die Südflanke im Sonnenlicht senkrecht und glatt, die Nordseite düster und kalt. Scharf trennte der Grat Licht und Schatten, abweisend und steil ragte er in den Himmel.

Über aufgetürmte Felsblöcke kletterte Magnus zum ersten Aufschwung, eine Leiter war einzementiert. Es ging leichter, als er sich vorgestellt hatte. Ein Drahtseil führte weiter über einen geneigten First. Er fasste es mit beiden Händen, das kalte Metall schnitt ins Fleisch. Er wandte den Kopf, sein Blick fiel in die Tiefe, fand keinen Halt. Ihm war, als wolle ihn eine Kraft in den Abgrund reissen.

«Nein», presste er hervor, blickte in die Höhe, wo der Felsenbug vor ihm aufragte. Wie Gischt flocken Wolkenfetzen über ihn hinweg. Magnus klammerte sich mit beiden Händen ans Drahtseil. Es war, als gewinne das Schiff an Fahrt. Er hörte Rauschen und Zischen von Wind und Wellen. Sein Herz schlug heftig, Schweiss rann ihm übers Gesicht, brannte in den Augen. Er presste seine Stirn gegen den kalten Stein. Träumte er, wie so oft, er sei ein Matrose und klammere sich an ein Tau am schwankenden Mast?

Ein Satz aus dem Buch fiel ihm ein. Die Welt ist ein Schiff, das den Anker lichtet. Jetzt verstand er ihn. Die ganze Welt war ein Schiff geworden.

Er nahm allen Mut zusammen, kletterte weiter, Seilen und Leitern entlang, dann auf allen Vieren über ein flaches Gratstück, bis ihm ein Steinhaufen den Weg verstellte. Kein Seil, keine Leiter, nur noch Luft. Es war der Gipfel, der Ausguck des grossen Schiffs. Magnus’ Herz machte einen Sprung. Er packte einen Felsbrocken, schleuderte ihn mit einem Schrei über die Wand und hörte, wie er aufschlug und eine Steinlawine mit in den Abgrund riss.

Es war kein Traum. Er hatte einen Berg bestiegen. Ohne Seil, ohne Karabinerhaken, nur mit seinen Händen und seinem Mut. Er stand im Top, im Ausguck, zuoberst auf dem Schiff, das die Welt war.

Die Luft fühlte sich an wie Glas. Gegen Süden glitt sein Blick über Hügel, Täler und Höhenzüge hinweg zu blauen Gipfeln. Wellen eines versteinerten Meeres. Im Westen wand sich die glitzernde Schlange eines Flusses durch die Ebene, eine Stadt lag versunken in Rauch und Dunst. In der Ferne stieg eine feine Dampfsäule in den Himmel. Die Welt war unendlich weit und gross, und jetzt war sie wieder in Ruhe, fest verankert. Er blickte hinab. Die Kühe, tief unten auf der Alp, grasten wie Flöhe im grünen Pelz. Der Wohnbus des Hirten ein Spielzeug auf dem Parkplatz. Mit dem Feldstecher suchte Magnus die Gegend ab, entdeckte Alpen mit Hütten, Dörfer, Strassen durch Täler und über Pässe, Berggipfel, deren Namen er nicht kannte.

Dann spürte er, wie müde und hungrig er war. Brot und Käse hatte er längst aufgegessen, die Flasche war leer. Er legte sich ins Geröll neben den Steinmann, bettete seinen Kopf auf den Rucksack, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, roch das Gestein und stellte sich vor, das grosse Schiff lichte die Anker und trage ihn weiter bis ins Meer, das im Süden hinter den fernen Bergkämmen lag.

Ein Luftzug weckte ihn. Faseriges Gewölk hatte sich vor die Sonne geschoben. Zeit zum Absteigen. Er klammerte sich ans Drahtseil, das Gesicht nahe am Fels, tastete mit den Füssen nach Halt. Tritt um Tritt kletterte er vorsichtig tiefer. Die Bergführerin kam ihm in den Sinn, die wie eine Spinne am Seidenfaden vom Berg herabschwebte. Wenn er das auch könnte! Sich ohne Angst, sicher und beschwingt über Abgründen bewegen.

Allmählich kam er besser voran, fühlte sich sicherer. Fiel sein Blick über die Felswände in die Tiefe, spürte er ein luftiges Flattern im Bauch. Ein Gemisch aus Angst und Lust. Wie als sie heimlich gekifft hatten im Heim.

Die Sonne stand tief, als er die Scharte erreichte. Die Ziegenalp auf der Nordseite war im Schatten versunken. Durch Schotter rutschte er die Felskehle hinab zum Weg. Bei der Runse kniete er nieder, schöpfte mit beiden Händen kaltes Wasser aus dem Rinnsal und trank, bis sein Bauch schmerzte.

Es dämmerte, als er zur Alphütte kam. Die Tür stand offen, ein Glatzkopf und eine junge Frau mit Rastalocken sassen am Tisch. Sie drehten Spaghetti auf Gabeln, tranken Wein. Kerzen brannten. Erstaunt blickten sie auf, als Magnus eintrat. Der Glatzkopf legte seine Gabel auf den Teller, wischte sich mit der Hand den Mund, stand auf. Gehänge wie Löffel baumelten an seinen Ohrläppchen. Er musterte Magnus von Kopf bis Fuss: «Das darf ja nicht wahr sein! Der Magnus.»

Magnus wich einen Schritt zurück. An der schrillen heiseren Stimme erkannte er den Alphirten. Iwan Zemp, sein Wohngruppenleiter. Im Heim hatte er blonde Haare bis auf die Schultern getragen. Christkind nannten sie ihn.

Spurlos

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