Читать книгу Spurlos - Emil Zopfi - Страница 20
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Als er erwachte, sah er über sich den Bären, braunes und zottiges Fell und funkelnde Augen. Hallo Daniel, nice to meet you. Im Yosemite hatten sich Bären im Camp 4 herumgetrieben, Zelte aufgerissen und Autos geknackt, immer auf der Suche nach Fressen. Auf Zucker waren sie besonders scharf. Der Gedanke an Zucker erinnerte ihn daran, wie er letzthin ein Zuckerbriefchen aufgerissen und aus der Hand geschleckt hatte, als sei auch er ein Bär. Er hatte schwer geträumt. Er fühlte sich den Puls, sein Herz schlug unregelmässig, er atmete durch, damit es sich beruhige. Durch weisse Vorhänge drang Dämmerlicht in das unbekannte Zimmer, in dem er lag, von einem Bären bewacht.
Die Biene Maya summte durch den dumpfen Gefühlsnebel in sein Bewusstsein. Maya Antenen, Pflegeleiterin, Onkologie. Ich hab doch nicht etwa Krebs?, schoss ihm durch den Kopf.
Daniel drehte sich auf den Bauch, sah in einer Spiegelwand zwischen zerwühlten Decken und Kissen eine müde Gestalt liegen, käsiges Gesicht, Zweitagebart. Auf der Bettumrandung hielt der Bär Wache mit gierigem Blick, hob plötzlich den Kopf, stellte den Schwanz und fauchte.
Bären haben doch nicht so lange Schwänze, sagte sich Daniel, drückte sein Gesicht ins Kissen, schloss die Augen. Sah das Mädchen vor sich, das auf einer Party eine falsche Droge erwischt hatte. Alkohol dazu, ein tödlicher Cocktail. Sie lag schon im Koma, als man sie brachte. Eine wachsweisse Prinzessin mit glasigen blauen Augen. Eine Nacht und einen Tag hatten sie gekämpft, er hatte mit ihr geredet, Geschichten erzählt, dann war sie hinter die sieben Berge entschwebt, still und leise und schön wie Schneewittchen. Die Eltern sassen im Korridor auf Plastikstühlen, er eilte an ihnen vorbei, fand den Mut nicht, es ihnen zu sagen.
Im Foyer war er der Pflegerin Maya begegnet. Er musste reden, um nicht zu heulen. Er erinnerte sie an seine Einladung zu Kaffee und Kuchen, doch so spät war kein Café in der Stadt mehr geöffnet. Er schleppte sie in eine Bar, kippte auf den doppelten Espresso zwei, drei Bourbon, vielleicht auch mehr und viel zu schnell, schwatzte unablässig, breitete sein ganzes verrücktes Leben vor ihr aus. Sie hörte ihm zu, mit traurigen, schwarz umrandeten Augen, im Taxi hielten sie Händchen, im Lift der erste Kuss. Liebe in Zeitraffer, er erinnerte sich nur noch an Bruchstücke. Hatten sie Kondome benutzt? Hatten sie überhaupt Sex gehabt, oder war er gleich eingeschlafen, behütet von diesem Bären, der ihn an wilde Tage im Westen erinnerte. Mit Andrea, dachte er, möchte ich einmal im Yosemite klettern, die Salathé am El Capitan fehlt mir noch, ein Klassiker. Würde ich vielleicht noch schaffen. Jetzt erinnerte er sich, dass er vom Yosemite geträumt hatte, er hängt in einer Wand, «Sea of Dreams», eine schwere Technoroute, auf der Hängematte neben ihm räkelt sich das Schneewittchen, ballt zarte Finger zu einem Fäustchen, hebt den Daumen, lächelt ihm zu. Ein abgründiges Gefühl der Verlassenheit hatte ihn ergriffen im Traum. Dann war er erwacht.
Er stemmte sich im Bett hoch, hockte auf den Rand, sah im Spiegel den Bauchansatz unter der behaarten Brust, die knochigen Schultern, er fasste sein Glied an, das sich warm und schlaff anfühlte. Bienensex, dachte er, honigsüsses Zungenlecken. Und der Bär hat zugeschaut. Blödsinn. Ich war viel zu besoffen und zu erschöpft, ein Schlappschwanz, klettere nicht mehr seit meinem Fehltritt in Israel und «Sea of Dreams» oder die Salathé schaffe ich nie im Leben. Die Muskelpakete sind weg, und vor Abgründen habe ich Angst.
Die Tür ging einen Spalt auf, Maya schaute herein, in schwarzem Lederrock und schwarzweiss gestreifter Jacke, die Haare gekämmt und gelackt, zum Ausgehen fertig. Kaffeeduft wehte ins Zimmer, sie beugte sich zu ihm, als sei er ein Patient, berührte mit den Lippen leicht seine Wange. Ihr Gesicht war kühl und glatt vom Make-up. «Ich hab Dienst», sagte sie. «Mach es dir gemütlich. Frühstück steht in der Küche bereit, der Schlüs sel liegt auf dem Tisch. Du kannst ihn mitnehmen.»
Sie schwebte davon, liess einen traumhaften Duft zurück, der Bär hüpfte vom Bett, trippelte ihr nach. Daniel hörte, wie sie mit ihm redete, mit ihrer sanften und langweiligen Stimme, er wollte etwas fragen, doch ein Schmerz fuhr ihm wie ein Messerstich von der Schläfe durchs Hirn.
«Im Bad liegen Frottétücher», rief sie. Dann ging die Wohnungstür. Die perfekte Pflegerin. Oberschwester Maya.
Endlich kam er hoch, betrachtete lange die Vitrine im Korridor, sie war ihm nicht aufgefallen, als sie in der Nacht nach Hause gekommen waren. Eine Sammlung von Barbiepuppen, schön drapiert auf gläsernen Tablaren mit Puppenstubenmöbeln, Barbie als Tennisgirl, Barbie in einer Bauerntracht, Barbie im Kampfanzug und natürlich als Krankenpflegerin mit Rotkreuzhäubchen. Sicher nähte Maya die Kleider selber in ihren einsamen Stunden. Ken allerdings, Barbies Boyfriend, fehlte. Offenbar sammelte Maya keine Männer. Ihr Beschützer war der Bär, der vollgefressene rote Perserkater. Er beobachtete Daniel aus Distanz mit seinem bösen gelben Blick, als wolle er ihn zerfleischen.
Daniel suchte seine Uhr, fand sie bei den Hosen, die gefaltet auf einem Stuhl lagen, darauf seine Unterwäsche, liebevoll glatt gestrichen. Jacke und Hemd hingen an Bügeln.
Er warf einen Blick in die Wohnküche, auf einem runden Tischchen in einem Erker war aufgedeckt, Käse unter der Glokke, Joghurt, Flocken, Schinken, mit Klarsichtfolie bedeckt, frisch aufgebackene Brötchen, Kaffee im Thermoskrug. Auf der Granitabdeckung der Kombination steckten zwei Eier in Bechern neben dem Eierkocher. Ein Zettel: Stell den Käse und den Schinken bitte in den Eisschrank, falls was übrig bleibt. Guten Appetit!
Es blieb alles übrig. Er mochte nicht einmal eine Tasse Kaffee, er musste so schnell wie möglich aus dieser Wohnung verschwinden. Den Schlüssel warf er in den Briefkasten.