Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 10
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Zu Hause angekommen, war der Abend für mich erst einmal gelaufen. Ein fieser, drückender Kopfschmerz begann sich in der hinteren Hälfte meines Schädels auszubreiten, als würde jemand langsam, aber stetig mit einer Hand zudrücken. Ich bekam doch hoffentlich keine Erkältung?
Achtlos ballerte ich die durchnässten Schuhe in die Ecke, überlegte es mir dann aber doch anders und verfrachtete sie auf die Heizung. Es gibt kaum was Ekligeres, als am nächsten Morgen in noch klamme Schuhe zu schlüpfen. Eigentlich hatte ich saumäßigen Hunger und mich schon auf eine kalorienreiche Fertigpizza gefreut, doch nachdem sich der Kopfschmerz nach einem Blick auf das noch tiefgekühlte Mahl dazu entschloss, auch seinen Freund Übelkeit zur Party einzuladen, wanderte das kleine Stückchen Italien wieder ins Gefrierfach. Auch der schon auf der Anrichte auf mich wartende Rotwein musste seine Vorfreude aufs Entkorkt-werden unterdrücken. Alkohol und Kopfschmerz war eine fatale Kombination. Man konnte mir ja viel Unvernunft nachsagen, aber so masochistisch war ich dann doch nicht. Zügig entledigte ich mich meiner Tagesklamotten auf einem Stuhl gegenüber vom Bett und schlüpfte anschließend in meine geliebte graue Jogginghose, zog einen rosafarbenen Fleecezipper über, und fertig war die Kuschelmontur. Meine weißen Eisbärpuschen rundeten das Ensemble perfekt ab, auch wenn ich an diesem Abend dafür nicht wirklich ein Auge hatte. Normalerweise fand ich mich selbst mit meinen kurzen roten Strubbelhaaren in dieser Kombination immer ganz niedlich, doch heute war mir nicht nach Selbstbeweihräucherung vor dem Spiegel. Hauptsache trocken und warm, mehr brauchte ich nicht.
Doch, eine Aspirin.
Während ich mir also eine Sprudeltablette in ein Wasserglas schnipste, fragte ich mich noch, wann ich wohl das letzte Mal solche Kopfschmerzen gehabt hatte. Ein leicht geprellter Fuß, als mich vor Kurzem ein nicht gerade rücksichtsvoller Rentner mit seinem Rollator „überfuhr“ und mir statt sich zu entschuldigen auch noch einen Stinkefinger zeigte – ja, das passierte mir in der Großstadt schon mal häufiger. Aber Kopfschmerzen? So richtig arg hatte ich die zuletzt vor ganzen vier Jahren, und das, nachdem mir mein damaliger Freund verkündet hatte, er hätte mit einer anderen geknutscht.
Autsch.
Ich hatte mich damals auf ein schönes Wochenende zu zweit gefreut, als er zur Tür hereinkam. Das Essen stand bereits auf dem Tisch, ich hatte mich extra an den Herd und dazu noch in Schale geschmissen – bei einer Wochenendbeziehung erhöhte sich nämlich sprunghaft die Qualität der gemeinsamen Zeit. Ich hatte sofort gespürt, dass etwas anders war, es jedoch auf das typische Fremdeln nach einer Woche Abstinenz geschoben. Als er aber später über dem Hackbraten hing und, wie ich heute weiß, ängstlich mit der Gabel in seinem Gemüse stocherte, da fasste ich mir doch ein Herz und fragte, was nur mit ihm los sei. Beinahe erleichtert hatte er geschnauft und mir seinen Fehltritt gebeichtet. Was darauf folgte, waren, kurz gesagt, ein schlimmer Weinkrampf und ein Bratenfleck an meiner Wand.
Schön blöd.
Dann hatte ich geschrien, ich könne ihn nicht mehr ansehen, und er solle meine Wohnung verlassen. Das tat er auch.
Und kam nie wieder.
Später am Abend war ich vom Heulen benommen und verquollen ins Bett gekrochen. Der Katzenjammer am nächsten Morgen hatte jeder Beschreibung gespottet.
Die heutigen Kopfschmerzen waren zwar nicht ganz so heftig, doch wollte ich es gar nicht erst so weit kommen lassen. Seit jenem Tag hatte ich vorsorglich immer ein paar Tabletten daheim. Grundregel für wirklich jede Frau – niemals ohne Aspirin. Erst recht, wenn sich ein Kerl den Weg in dein Herz gebahnt hat. Auf Aspirin konnte man sich immer verlassen, aber auf Männer … Na, lassen wir das.
Woher kam nun diese Spannung in meinem Schädel, die sich unablässig ausbreitete, als wäre ich mit den Schläfen in einen Schraubstock gespannt? Die Arbeit war so wie immer gewesen, also konnte es nicht daran liegen. Nichts Besonderes war vorgefallen. Konnte es vielleicht etwas mit dem ominösen Fremden zu tun haben, der mir heute im Park begegnet war? Im Bus hatte ich noch überlegt, ob ich ihn nicht doch von irgendwoher kannte, und gegrübelt, was mir da überhaupt passiert war. Ein Fremder im Regen, der mir mit einem unwiderstehlichen Lächeln einen Knoten in die Eingeweide gezaubert hatte. Selbst jetzt, als ich nur an ihn dachte, spürte ich wieder den kleinen Kolibri im Magen flattern. Verdammt. Aline, wie alt bist du eigentlich? Du solltest dich doch eigentlich besser im Griff haben und dich nicht so mir nichts, dir nichts von einer Reihe blendend weißer Zähne und einem herzhaft männlichen Lachen derart aus der Fassung bringen lassen. Vom Aufwecken der kleinen Wildkatze mal ganz abgesehen.
Die Wirkung des Aspirins ließ leider noch etwas auf sich warten. Deshalb verfrachtete ich mich mit einem Kühlpack, das ich in ein Handtuch gewickelt hatte, auf die Couch. Mein Handy legte ich vorsichtshalber auf den Boden, nur für den Fall, dass ich einschlief. Ich hatte keinen Wecker, das erledigte das kleine pinkfarbene Telefon für mich. Oh, schon gemerkt? – Ich hatte eine Vorliebe für Pink. So Frau, so Klischee …
Jeder hatte so seine Macken.
Und meine waren eben pink.
Oder männlich.
Oder beides, wie im Sommer vor zwei Jahren, aber das gehört hier jetzt nicht hin.
Die Kälte der Eispackung auf meiner Stirn fraß sich schnell schmerzlindernd durch meine Stirn, und ich schloss die Augen, um wieder meine allseits bekannte Privatshow zu sehen. Wie oft hatte ich bereits in meinem Freundes- und Bekanntenkreis herumgefragt, ob jemand so etwas in der Art auch kannte, und war doch immer auf Unverständnis und Ratlosigkeit gestoßen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich nicht nur Schwarz, nein, ich sah eine Explosion von Tausenden kleiner gelber, grüner und roter Lichtpunkte, die in Hochgeschwindigkeit umherschwirrten und sich nicht selten zu Gestalten formten, die entweder miteinander kämpften oder bedrohlich auf mich zurasten. Ja, ich wusste, wie sich das anhörte, konnte es aber nicht ändern. Das Ganze hatte mit meinem Eintritt in die Pubertät begonnen. Eines Nachts hatte ich einen schlimmen Albtraum. Ich erinnerte mich noch genau, wie ich im Schlaf dachte, dass sei alles kein Problem, ich müsse einfach nur aufwachen, und der Traum würde vorbei sein. Tatsächlich schlug ich hierauf die Augen in meinem stets vollkommen abgedunkelten Kinderzimmer auf – um mit Erschrecken festzustellen, dass der Traum weiterlief. Da dachte ich, ich würde noch schlafen, doch erst als ich es schließlich in allmählich aufkommender Panik schaffte, den Lichtschalter zu betätigen, war der Spuk vorbei. Und ich saß kerzengerade im Bett, hellwach und schweißgebadet. Ich hatte bis jetzt niemals jemandem von diesem Ereignis erzählt. Es war viel zu verunsichernd und beängstigend für mich. Und, mal ehrlich, wer hätte mich schon ernst genommen – ein früh pubertierendes, dickliches Kind mit Riesenminderwertigkeitskomplexen, das bei seinen Klassenkameraden aufgrund seiner guten Noten so beliebt war wie Fußpilz? Verrückte Träume? Ein weiterer Grund für Hänseleien. Wenigstens der Babyspeck hatte sich dank zahlreicher Joggingrunden im Laufe der Jahre verwachsen und eine einigermaßen normale Figur freigegeben. Die Albträume allerdings waren mir geblieben. Seit jener Nacht hatte ich diese, nennen wir sie in Ermangelung einer passenden Bezeichnung mal Minivisionen, denn das Schauspiel setzte immer dann ein, sobald ich die Augen schloss.
Egal wann, egal wo.
Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Früher hatte mich das beinahe in den Wahnsinn getrieben, doch über die Jahre hinweg hatte ich gelernt, es zu ignorieren. Was war mir denn sonst auch anderes übrig geblieben?
Die Kopfschmerzen lenkten heute allerdings vortrefflich von meinem persönlichen Heimkino ab. Zwar auf qualvolle Weise, aber egal. Hauptsache war, nur nicht mehr zu denken. Nicht mehr zu denken an einen großen, schlanken, dunklen Fremden, wie er lässig und lasziv an meinem Lieblingsbaum lehnte und den Duft des Regens inhalierte, nicht mehr zu denken an sein Lächeln, das meine Knie in Wackelpudding verwandelt hatte, nicht mehr zu denken an seine Ausstrahlung, die so verheißungsvoll und gleichzeitig so gefährlich mysteriös in meiner Magengrube vibrierte …