Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 14

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Ich wusste nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen war. Und auch nicht, wann. Als der Handywecker um halb acht klingelte, brauchte ich erst einen Moment, um mich zu orientieren. Ich hatte eindeutig zu wenig Schlaf bekommen, dafür, dass ich in eineinhalb Stunden wieder meckernde Kunden besänftigen musste. Ein starker Tee würde helfen. Gott sei Dank war heute Freitag. Mühsam krabbelte ich aus dem Bett und in die Küche, um mir meinen schwarzen, irischen Frühstückstee zuzubereiten. Der war jetzt genau das, was ich brauchte. Schwarz und stark. Autsch. Eine Erinnerung blitzte in meinem Kopf auf, und ich wusste wieder, was ich letzte Nacht getrieben hatte.

Das Kopfweh.

Der Zweig.

Der Park.

Der Mann.

Daron.

Oooh … Mir wurde leicht schwummerig, und ich musste kurzzeitig meinen Kopf an die kalte Edelstahltür meines Kühlschranks lehnen. Daron … Was hatte ich mir nur dabei gedacht, gestern Nacht alleine im Park herumzustreunen und, damit nicht genug, musste ich mich natürlich auch noch von einem Wildfremden küssen lassen, der wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war. Der so schön und geheimnisvoll, dessen Kuss so voll lebendiger Leidenschaft war, dass es mir selbst jetzt in meiner Küche beim Gedanken daran noch den Atem raubte.

„Wer bist du, Daron?“, hatte ich ihn nach dem Kuss erneut gefragt und dabei kaum meine zitternde Stimme kontrollieren können. Im Nachhinein ärgerte ich mich über diese beinahe klischeehafte Frage. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt mein Hirn bereits in den Tiefschlaf geschickt. Daron hatte mir erneut sein zauberhaftes Lächeln geschenkt und mit der linken Hand über meine Wange gestreichelt. Seine Stirn lehnte an meiner, sein langes Haar war inzwischen in mein Gesicht gefallen. Und er hatte so unbeschreiblich gut gerochen … nach Erde und Wald, nach See und Wind. Hätte es diesen Duft in Flaschen gegeben, ich hätte ihn ungeachtet des Preises auf der Stelle gekauft.

„Ich bin einfach nur jemand, der dich sehr interessant und attraktiv findet. Jemand, der dich besser kennenlernen will.“

Mein Herz hatte bei diesen Worten einen Satz getan, dass ich befürchtet hatte, es sei soeben aus meinem Brustkorb geschossen und wie ein Flummi über den Rasen gekugelt. Ich und attraktiv? In diesem Moment war mir dann wieder eingefallen, wie ich aussah – dick eingepackt in meine Wohlfühlklamotten, einem schwarzen Michelinmännchen gleich, eher pragmatisch als schick, die Mütze tief ins Gesicht gezogen … O Gott, ich war ja nicht einmal geschminkt! Als hätte er meine Gedanken erraten, hatte Daron ein schallendes Lachen ertönen lassen, das mir erneut einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt hatte.

„Schau nicht so geschockt. Du gefällst mir, ist das so abwegig?“

„Aber …ich trage nicht mal Make-up und … ich …“, hatte ich hilflos vor mich hin gestammelt und an meiner im Vergleich zu ihm recht unspektakulären Aufmachung heruntergeblickt. Ja, ich war tatsächlich ein Michelinmännchen. Er dagegen hätte auf dem Cover der Playgirl posieren können. Seine Lederjacke passte auf seinen Körper wie eine zweite Haut, und auch die knackige, schwarze Jeans gab meiner Meinung nach mehr preis, als sie verhüllte. Dabei hatte ich mich kurz gefragt, ob ihm denn nicht ein bisschen kühl sein musste. Es war schließlich November, dazu mitten in der Nacht und kalt, da war mir eine einfach Lederjacke doch recht dünn vorgekommen. Diesen Gedanken hatte ich allerdings sofort wieder verdrängt, zu sehr hielt mich sein Anblick gebannt. Seine Figur war so sportlich, seine Schultern so wunderbar breit, ich hätte ein Monatsgehalt darauf gewettet, dass er an jedem Finger zehn Frauen haben konnte. Mindestens. Und da wollte er ausgerechnet mich kennenlernen? Die kleine langweilige Stubenhockerin mit dem roten Struwwelkopf, die jeden zweiten Tag mit ihrer Cellulitis haderte und aus Einsamkeit allabendlich die Katze rasieren würde, wenn sie denn eine gehabt hätte? Immer noch verwirrt von dem, was mir da gerade passiert war, war ich kaum in der Lage gewesen, meine Gedanken in anständige Sätze zu fassen. Toll, Aline, ein Kuss, und du wirst zum Weibchen, hatte ich mich leise geärgert. Färb dir doch gleich die Haare platinblond und bemal dich mit pinkfarbenem Lippenstift.

„Mach dir nicht so viele Gedanken über so unwichtige Dinge wie Äußerlichkeiten. Sie sind so nichtssagend im Vergleich zu dem, was oft hinter der Fassade steckt.“

Zack! – das hatte gesessen. Er fand mich also doch nicht so attraktiv, wie er mir hatte weismachen wollen. Schlagartig waren die wogenden Wellen der Hingabe und Romantik abgeebbt, und ein dicker Knoten hatte sich in meinem Bauch gebildet; zu sehr hatte mich der Kommentar an vergangene Schmach und den Lippenstiftunfall hinter der Turnhalle erinnert. Keiner würde mehr mit mir spielen, das hatte ich mir damals fest geschworen. Keiner würde mir mehr sagen, dass er mich toll fand, um es im nächsten Moment wieder zu revidieren. Und doch war ich immer wieder auf die Nase gefallen. So wie das Leben eben spielte.

„Danke fürs Kompliment“, hatte ich ihn angefaucht. „Du musst mir nicht sagen, dass ich dir gefalle, wenn es nicht stimmt. Ich kann die Wahrheit durchaus verkraften.“ Daraufhin hatte ich mich aus meiner Daron-Baum-Sandwichposition winden wollen, doch seine Hände packten mich blitzschnell an den Schultern. Gleichzeitig hatte sich Daron noch mehr gegen mich gedrängt und seinen Druck auf meinen Körper verstärkt. Gefangen. Na super. Was eben noch hinreißend und erregend gewesen war, hatte sich innerhalb eines Satzes in beengend, unangenehm und äußerst peinlich verwandelt.

„Hey, damit wollte ich dir nicht zu nahe treten. Vielleicht habe ich mich unglücklich ausgedrückt, dann bitte verzeih mir.“

Bei diesen Worten blickte ich zurück in sein Gesicht. Sorgenfalten hatten sich auf seiner Stirn gebildet, und seine Smaragdaugen trugen den Ausdruck reinen Bedauerns.

„Ich wollte dir sagen, dass ich nicht deine Kleidung sehe oder eine Schicht Farbe im Gesicht. Ich sehe eine wunderschöne Frau mit jeder Menge Herz und dem Mut, ihm zu folgen. Die sich so gibt, wie sie ist, und es nicht nötig hat, sich zu verstellen, wie so viele andere. Ich sehe dich, so wie du bist.“ Er hatte sich kurz räuspern müssen. „Aline, ich bin nicht besonders geübt im … Reden . Ich komme leider nicht oft unter … Menschen, und das letzte Gespräch mit einem weiblichen Wesen ist auch schon eine ganze Weile her. Ich wollte dir wirklich nicht wehtun. Bitte, nimm meine Entschuldigung an.“

Während dieser Worte hatte er sich zweimal die Haare aus dem Gesicht gestrichen und hinters Ohr geklemmt. Ganz eindeutig, er war nervös gewesen. Dieses Prachtexemplar von Mann, das jede Frau hätte haben können und laut seinen Worten aus irgendeinem Grund offenbar doch nicht hatte, war nervös, weil er mit mir sprach. Mit mir! Seine Worte hatten so ehrlich geklungen, seine Körpersprache so aufrichtig gewirkt, dass ich entgegen meiner Angst vor einer erneuten Erniedrigung den Knoten in meinem Bauch gelöst und seinem treuherzigen Hundeblick nachgegeben hatte.

Die ersten Schlucke Tee wärmten meinen Magen, und seine Stärke verschaffte mir den nötigen Hallo-wach-Effekt. Ich schlurfte mit meiner Tasse ins Bad, stellte sie auf den Spülkasten und stützte mich mit den Händen am Waschbecken ab. Der Blick in den Spiegel zeigte mir eine Person, die ich zwar nicht kannte, aber trotzdem schminken musste. Bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich die Nächte durchfeiern können und war am nächsten Morgen trotzdem fit und frisch zur Arbeit gegangen. Danach allerdings war es rapide bergab gegangen, und mittlerweile gab es gar nicht genug Augenseren und Gurkenscheiben, die ich mir ins Gesicht knallen konnte, um nach nur fünf Stunden Schlaf wenigstens einigermaßen vorzeigbar zu sein. Letzte Nacht hatte ich sogar nur ganze zwei Stunden geschlafen. Die daraus resultierende optische Katastrophe können Sie sich wohl vorstellen. Während ich also meinem allmorgendlichen Beautyritual nachging, das sich schon in eine Art Automatismus verwandelt hatte, schweiften meine Gedanken wieder zurück an die Szene unter der Pappel, die noch gar nicht so lange her war.

Ich hatte Daron geglaubt, dass es ihm leidgetan hatte. Weil – und da war ich mir gegenüber schonungslos ehrlich – ich es einfach hatte glauben wollen. Weil es fast zu schön war, um wahr zu sein. Ein unglaublich toller Mann hatte mich geküsst und sein Interesse an mir bekundet. Hallo Jackpot! Nun gut, wenn man mal von den Begleitumständen absah, die zugegebenermaßen mehr als mysteriös waren. Da würde ich ihm noch auf den Zahn fühlen, dieses Versprechen hatte ich mir selbst gegeben.

„Okay, einen Fettnapf pro Woche hat jeder frei“, hatte ich mit leicht belegter Stimme geantwortet, „Entschuldigung akzeptiert.“ Erleichterung war in Darons Augen getreten und eine Anspannung, von der ich gar nicht gemerkt hatte, dass sie ihn erfasst hatte, aus seiner Haltung gewichen.

„Du glaubst gar nicht, wie froh ich darüber bin, dass du das sagst.“

Wieder hatte er meine Wange berührt und ich dabei unabsichtlich mein Gesicht in seine Hand geschmiegt, seinem wunderbaren Duft folgend, der besonders stark auf seinem Handgelenk lag. Mittlerweile hatte ich einen solchen Overkill an Empfindungen in mir gespürt, dass ich kaum mehr hatte geradeaus denken können. All meine Fragen, all die Ungereimtheiten waren in diesem Moment für mich nicht mehr existent gewesen, ich merkte auf einmal nur noch, wie unsagbar erschöpft ich war. Die Nacht hatte bereits begonnen, ihren Tribut zu fordern. Daron musste wohl meine Müdigkeit bemerkt haben, denn er hatte mir angeboten, mich nach Hause zu begleiten, und ich hatte dankend abgelehnt. Nicht, weil ich nicht gewollt hätte, sondern aus rein pragmatischen Beweggründen. Das Wort Beweg-Gründe war hier wörtlich zu nehmen, denn mit dem Rad war ich einfach schneller daheim als zu Fuß. Daron hatte das vollkommen verstanden und mich gefragt, ob er mich am nächsten Abend zu Hause besuchen dürfe.

Anständig. Durch die Vordertür. Da hatte ich lachen müssen. Und ihm ein Ja gegeben. Zum Abschied hatte er mich noch einmal geküsst, diesmal nur kurz und leicht, wie die Berührung einer Feder. Es glich einem Wunder, dass ich tatsächlich den Weg nach Hause gefunden hatte, ohne mich zu verfahren, so sehr war ich durch den Wind gewesen. Na ja, fast ohne Verfahren: Einmal war ich falsch abgebogen und in einem vermüllten Hinterhof gelandet. Reine Müdigkeit, hatte ich mir da eingeredet. Ja, sicher doch.

Mittlerweile war ich mit meiner Fassadenrenovierung fertig, die Zähne waren geputzt und die Haare zurechtgewuschelt. Ich würde heute zwar keinen Schönheitswettbewerb gewinnen, aber der gröbste Schaden war behoben. Duschen musste aus Zeitnot bis auf nach der Arbeit verschoben werden – wozu gab es schließlich Katzenwäsche und teures Parfüm? Eines war definitiv klar: Vor heute Abend brauchte ich dringend noch eine Mütze voll Schlaf. Und zwar eine richtig große Mütze voll.

Die Linie der Ewigen

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