Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 13
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Nur wenige Straßenlaternen leuchteten mir den Weg, als ich langsam über den Asphalt rollte. Der war eines der wenigen Dinge am Park, die mir normalerweise gar nicht gefielen. Teer in einer grünen Lunge – was für ein Witz. Jetzt gerade aber war ich froh darüber, ermöglichte mir die glatte Oberfläche doch ein relativ leises Vorankommen. Kies hätte zu sehr geknirscht und jedem sofort verraten, dass ich kam. Allmählich fragte ich mich, wie ich jemals mit dieser Paranoia aus dem Haus hatte gehen können, aber ich möchte Sie mal sehen, wenn Ihnen nachts jemand heimlich auf den Balkon steigt.
Besser vor- als nachsichtig.
Behutsam trat ich ein ums andere Mal in die Pedale. Auch wenn ich auf der einen Seite richtig dick Angst hatte, so allein als Frau in der kalten Nacht in einem riesigen Park, mein kleines Herz wie ein gefangener Vogel gegen den Brustkorb flatternd, so verdammt neugierig war ich doch auf meine Pappel angesichts dessen, was sich vor Kurzem dort ereignet hatte. Es war so irrational, nennen wir es ruhig grenzdebil, zu glauben, ich würde dort so etwas wie einen Hinweis, ein weiteres Zeichen finden. Ich wusste ja nicht mal, wonach ich überhaupt hätte Ausschau halten sollen.
Verdammte Neugier! Manchmal war sie wirklich hilfreich.
Und, wie schon erwähnt, ziemlich oft der Katze Tod.
Miau.
So fuhr ich nun im fahlgelben Licht der Laternen an Büschen und Grünflächen vorbei, die mir zu dieser Zeit alles andere als beruhigend erschienen. Wie konnte etwas, das am Tag so schön war, nachts nur so bedrohlich wirken? Nach einer langen, geraden Strecke machte der Weg eine Rechtskurve, und da sah ich sie: meine Pappel. Groß und mächtig reckte sie sich in den Himmel und schien trotz ihrer nicht mehr ganz voluminösen Blätterkrone gleichzeitig Mann und Frau zu symbolisieren. Für meine Mutter war eine Pappel stets irgendwie männlich, imposant und drohend. Für mich hingegen bedeutete die Baumkrone Schutz, ein Heim für meine kleine Seele. Wann immer ich an dem knorrigen Stamm lehnte, war es mir, als würde alle Last meines Lebens von mir abfallen und eine Woge von Frieden meinen Kummer hinwegwehen. So komisch das klang, irgendwie gab dieser Baum mir Halt, Wärme und Geborgenheit. Müsste er jemals gefällt werden, ich würde mich ohne zu zögern in seinem Wipfel verbarrikadieren und nicht eher weichen, bis das Vorhaben abgeblasen wäre. Darauf hätte ich jeden Eid geschworen.
Mittlerweile war ich in der Nähe des Baumes angekommen, stieg ab und ging die restlichen Meter zu Fuß, nachdem ich meinen Drahtesel behutsam am Weg ins Gras gelegt hatte. Sofort hatte ich wieder klamme Schuhe. Wenigstens hatte es bisher noch kein einziges Mal geschneit; Schnee war so überhaupt nicht mein Ding. Vorsichtig, immer mal einen Blick über meine Schulter werfend, ging ich um den kräftigen Stamm herum, eine Hand stets die Rinde berührend. Sofort umwehte mich wieder dieser friedliche Hauch, dieses Gefühl von Heimat und Zu-Hause-Sein, sodass mein Herz endlich einen Gang zurückschalten konnte. Tief sog ich die kalte Luft ein, roch das Regenwasser auf den Blättern und die Erde unter meinen Füßen. Ich schloss die Augen und ließ meine Gefühle treiben. Freiheit, so roch grenzenlose Freiheit. Wie ein Wald voller Versprechungen mit einer Lichtung, funkelnd im Sternenglanz, und mit einem See tiefer Geheimnisse. Freiheit … „Eine unübliche Zeit für einen Ausflug, findest du nicht?“
Der Schreck fuhr mir in die Glieder, mein Herzschlag setzte gefühlte fünf Minuten lang aus, und kalter Schweiß schoss mir aus den Poren. Ich riss meine Augen auf und blickte wie ein gehetztes Kaninchen hinter mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Eine männliche Stimme, tief und brummend. Und dabei so sanft wie Kaschmir. Doch da war niemand. Weder in unmittelbarer Nähe noch an der kleinen Bank einige Meter weiter, die sich einsam an eine Laterne kuschelte. Hatte ich mir das etwa eingebildet? Himmel, so langsam brauchte ich wohl doch eine weiße Jacke, bei der man die Arme auf den Rücken binden konnte. Verwirrt blickte ich wieder nach vorne – um in das hinreißendste grüne Augenpaar einzutauchen, das ich je bei einem Mann gesehen hatte. Hätte ich mich nicht erneut zu Tode erschrocken, ich hätte mich in ihnen geradezu verlieren können. Ich realisierte sofort, dass er es war. Er, den ich gestern Abend an genau dieser Stelle im Regen hatte stehen sehen. Und offenbar ebenso der, der mich auf unerklärliche Art und Weise hierher gelockt zu haben schien. Wie hatte er das nur gemacht, von einer Sekunde auf die andere vor mir zu erscheinen? Seine Stimme war doch von ganz woanders her gekommen. Er lächelte leicht, als würde ihm sein kleines Verwirrspiel Freude bereiten. Trotz meiner sprunghaft um hundert Kilo schwerer gewordenen Angst, die mich fast zu lähmen drohte, managte ich ein ebenso kleines Lächeln. Das war schließlich die schönste Art, Zähne zu zeigen. Und Zähne konnten zudem ganz schön wehtun, wenn man sie richtig einsetzte.
„Und Sie?“, entgegnete ich mit einer erstaunlich ruhigen Stimme. „Haben Sie nichts Besseres zu tun, als nachts jungen Frauen im Park aufzulauern?“ Prima, Aline, wenn er bis jetzt keine dumme Idee gehabt hatte – nun hatte er sie sicherlich. Sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen.
„Was, wenn dem so wäre?“
„Dann sollten Sie sich lieber mal einen Fernseher kaufen.“ Super, ganz super, jetzt wurde ich auch noch frech. Doch die Worte purzelten einfach so aus mir raus, bevor ich überhaupt nachdenken konnte. Wenn ich Angst hatte, wurde ich immer defensiv. Er würde mir sicher gleich den Garaus machen. Doch stattdessen lachte er. Dieses wunderbare Lachen, das ich schon einmal vernommen hatte, so voll und fest, dass ich mich am liebsten in seine Lederjacke geschmiegt hätte, deren leichter Duft um meine Nase wehte. Er lachte immer weiter und sorgte dafür, dass meine Kolibrischar erneut ihre flinken Flügel schlagen ließ. Verdammt, wie machte er das bloß? Eine Etage tiefer erwachte bereits die Wildkatze, blieb aber vorerst noch liegen. Gott sei Dank verlieh mir meine Angst zumindest ein klein wenig Kontrolle über meine Libido, die seit zwei Jahren so brach lag wie Death Valley (nur ohne die über die Landschaft wehenden toten Gestrüppkugeln). Ja, so mau sah es bei mir aus. Während der Kerl lachte, nutzte ich die Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Langes, dunkles Haar fiel ihm über die Schultern, glatt und glänzend wie ein Wasserfall aus Seide. Seine Haut dagegen war bleich wie Elfenbein, wodurch das Katzengrün seiner Augen wie zwei leuchtende Smaragde in einer platinierten Ringfassung funkelten. Schmuck war eines meiner Hobbys. Ich erkannte einen echten Stein unter zehn Imitaten auf fünf Meter Entfernung mit verbundenen Augen. Die hiesigen Juweliere freuten sich stets über meine Stippvisiten, nie verließ ich den Laden ohne ein kleines Tütchen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Doch diese Smaragde, die sich vor mir befanden, waren in ihrer Reinheit unbezahlbar.
„Weißt du, so erfrischend schlagfertig hat mir schon lange niemand mehr geantwortet“, riss mich mein Gegenüber, das nicht mal einen Meter von mir entfernt stand, aus meinen mal wieder abschweifenden Gedanken. Wenn es eines gab, worauf ich mich verlassen konnte, dann war es meine Fähigkeit, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, selbst in der unpassendsten Situation.
„Ach ja?“, meinte ich leicht schnippisch. „Vielleicht sollten Sie öfter mal in den Park gehen; die hiesigen Eichhörnchen sollen wahre Rhetorikgenies sein.“ Oh, verdammt. Schnell biss ich mir auf die Zunge. Mit jeder Salve ritt ich mich nur noch tiefer ins Verderben. „Bei denen habe ich bereits angefragt, doch die bestehen bei ihren Empfängen auf Fell.“
Hörte ich da einen kleinen Hauch Ironie heraus? Ich blickte zaghaft in die Smaragdaugen. Sie glitzerten noch feucht von den Tränen, die das Lachen an die Oberfläche gedrückt hatte. Jetzt erst kam ich dazu, einen genaueren Blick auf das Gesicht des Mannes zu werfen und bemerkte die markanten Wangenknochen, das strenge Kinn und die im Vergleich dazu wunderbar weich gezeichneten Lippen. Was für ein schöner Mann, schoss es mir in derselben Sekunde durch den Kopf. Zum Sterben schön. Und von so stattlicher Größe: Ich schätzte ihn grob auf einen Meter neunzig. So lässig, wie er vor mir stand, die Hände in den Jackentaschen versteckt, das eine Bein leicht entlastet, konnte man sich in seiner Gegenwart beinahe wohl fühlen. Aber nur beinahe, er war schließlich ein vollkommen Fremder. Ein wildfremder Mann nachts im Park, der nicht nur eine unbekannte Frau ansprach, sondern vermutlich auch sonderbare Präsente auf merkwürdige Art und Weise auf Balkonen hinterließ.
Zack! – da hatte sie mich wieder, die Stimme der Vernunft, die Stimme der Angst, nicht zu wissen, mit wem ich es hier zu tun hatte und ob diese hübsche Aufmachung nur der Köder war für eine abscheuliche Absicht, an deren vermeintliche Existenz ich gerade nicht wirklich denken wollte. Ich beschloss einen Frontalangriff.
„Nun, was die Einladungskriterien der Hörnchen betrifft, kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich für meinen Teil bestehe nicht auf Fell bei meinen Partys, dafür aber auf eine gewisse Etikette. Das heimliche Drapieren mysteriöser Gaben auf fremden Balkonen gehört sicher nicht dazu. Ich bin da etwas altmodisch und bevorzuge lieber eine gute Flasche Wein. Und zwar durch die Vordertür.“
Dachte ich bisher, seine Augen würden funkeln, so wurde ich umgehend eines Besseren belehrt. Etwas blitzte in ihnen auf, dass es mir fast den Atem verschlug. War es Belustigung? Oder etwas völlig anderes? Hatte ich mich etwa doch verkalkuliert und damit der Boulevardpresse eine neue Schlagzeile für die nächste Ausgabe geliefert: „Junge Frau erdrosselt im Park aufgefunden“?
Doch anstatt mich auf der Stelle zu meucheln, tat er etwas Unerwartetes. Er verlegte seinen Schwerpunkt und lehnte sich mit seiner rechten Seite gegen den Baum, einen Arm abstützend auf den Stamm gelegt. Genau mir gegenüber, nur wenige Zentimeter entfernt. Mir stockte der Atem.
„Schlagfertig und mutig. Eine Kombination, die man bei einer Frau nicht gerade häufig findet. Und besonders nicht gegenüber einem Fremden nachts im Park.“ Er lächelte erneut und entblößte dabei seine unglaublich perfekte Reihe weißer Zähne. Gott, ich musste ihn wirklich nach seinem Dentisten fragen. Später. Falls ich dann noch am Leben sein sollte. „Ein Mädchen tut, was es kann“, entwischte es mir. Mittlerweile war mir klar, dass ich den Bogen schon zu sehr überspannt hatte, um jetzt auf kleines, armes Hascherl zu machen.
Vielleicht wäre das in dieser Situation auch das gänzlich Falscheste gewesen? Er wollte Schlagfertigkeit? Konnte er haben. Mut? Ja, der war auch im Angebot, und zwar der Mut der Verzweiflung. Was hätte ich drum gegeben, wäre ich mal so tough gegenüber meinem Chef bei den Gehaltsverhandlungen aufgetreten.
Ich wusste aus Filmen, dass das einzige, was Psychopathen noch lieber taten als morden, über sich selbst zu reden war.
„Also“, setzte ich dementsprechend an, bevor eine zu große Lücke entstand, „wenn Sie nun bitte so liebenswürdig wären, mir zu erklären, was Sie auf meinem Balkon zu suchen hatten und was Sie mit Ihrem merkwürdigen Geschenk bezweckten? Anhand Ihrer Haare und Ihrer Anwesenheit hier gehe ich einfach mal davon aus, dass Sie der mysteriöse Schenker sind. Oh, und wenn wir schon dabei sind: Wie haben Sie mich überhaupt gefunden, und was in drei Teufels Namen wollen Sie ausgerechnet von mir?“ Auf das „Sie“ legte ich dabei eine besondere Betonung, denn es war mir nicht entgangen, wie ich die ganze Zeit über brav die Etikette befolgte und der Herr dagegen sofort zum Duzen übergegangen war. Das fand ich ganz schön dreist. Aber war jetzt der richtige Zeitpunkt, sich ernsthaft darüber aufzuregen? Er verzog ein wenig seine Miene. Nicht gut. Irgendwas hatte ihm missfallen. Das Fluchen? Verdammt, ich war übers Ziel hinaus geschossen.
„Sei vorsichtig in der Wahl deiner Worte. Manche haben mehr Kraft, als du ahnst, Aline.“ In Millisekunden schnürte es mir die Kehle zu. Beinahe hätte ich nach Luft gejapst, so erschreckend fühlte sich die Erwähnung meines Namens in dieser Situation an. Mein Name. Er kannte ihn. Komm schon, reiß dich zusammen, versuchte ich klar zu denken, er hat dich verfolgt, er war auf deinem Balkon … Offensichtlich hatte er die Klingelschilder gezielt ausspioniert. Ich war noch nie begeistert davon gewesen, dass die Hausverwaltung auf die Beschilderung mit Vor- und Zunamen bestand. Man fand das einfach schick. Für die Bedenken einer jungen Singlefrau hatte man dagegen kein Verständnis. Etwas vorsichtiger wagte ich einen erneuten Vorstoß.
„Wie ich sehe, haben Sie die Klingelschilder genau studiert.“
Leicht verächtlich schnaubte er aus, schüttelte den Kopf und bedachte mich mit einem spöttischen Lächeln. Er taxierte mich von oben bis unten mit einem Blick, der mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Wie eine Schlange, die gleich das Kaninchen frisst, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich kam nicht dazu, erneut zu sprechen. „Eines muss ich dir lassen, du kommst schnell und ohne zu zögern auf den Punkt. Du hast recht, ich bin dir tatsächlich einige Antworten schuldig. Allerdings vermag ich dir nur wenige selber zu geben. Einiges musst du selbst erkennen, und vieles wird sich erst noch formen, da die Fragen bisher nicht gestellt wurden.“
Nun, das war mir dann doch eine Spur zu kryptisch, und meine Wut fing langsam an, an der Stelle zu brodeln, wo vorher noch ängstliche kleine Vögel umhergeschwirrt waren. Ich wollte Antworten, hier und jetzt. Meine Hand, die immer noch auf dem Stamm der Pappel lag, fing allmählich an zu schmerzen, und als ich auf sie herabblickte, sah ich, dass ich mich die ganze Zeit über in die Rinde gekrallt hatte. Meine Finger atmeten beinahe hörbar auf, als ich sie aus ihrer verkrampften Haltung löste. Jetzt war dann doch mal der Punkt gekommen, an dem ich auf alle Vorsicht pfiff und meinen Ärger an die Oberfläche kochen ließ. Es war dunkel, und ich spürte auf einen Schlag die Müdigkeit über mich kommen, sodass ich gar nicht in der Laune für prosaische Rätselgeschichten war.
„Sagen Sie mir einfach, wer Sie sind und was Sie von mir wollen!“, knurrte ich.
„Ich kann dir zumindest sagen, was ich nicht bin. Ich bin nicht das, was du zu sehen glaubst. Nicht der, für den du mich halten magst.“
„Na, Sie werden doch aber sicher einen Namen haben!“, raunzte ich ihm entnervt entgegen. Er seufzte leise.
„Dass Namen immer so wichtig sind. Sie sind nichts als Schall und Rauch.“
Mir gefiel sein Tonfall nicht. Es war der eines Erwachsenen, der herablassend mit einem kleinen, trotzigen Kind sprach, das empört mit seinem kleinen Beinchen auf dem Boden aufstampfte. Offenbar hatte er meine Verstimmung bemerkt, denn er beeilte sich fortzufahren: „Du hattest noch eine Frage gestellt. Du wolltest wissen, warum ich dich besucht habe.“ Das wurde ja immer besser.
„Na, wenn Sie nächtliches Turnen vor fremden Wohnungen besuchen nennen, dann möchte ich nicht wissen, wie es aussieht, wenn Sie mal angemeldet hereinschneien!“ Ich gab mir keine Mühe, meinen Ärger zu unterdrücken.
„Ach, Aline …“, seufzte mein Gegenüber, „… so jung, so erfrischend ehrlich und unbedarft.“ Bitte? Doch gerade, als ich lospoltern wollte, nahm er mir den Wind aus den Segeln.
„Das gefällt mir. Das gefällt mir sogar sehr.“
Diese Worte besaßen eine solche Intensität, dass mir eine Gänsehaut die Wirbelsäule hoch bis unter meine Kopfhaut kroch. Der Fremde machte in der gleichen Sekunde eine halbe Drehung in meine Richtung, sodass ich erschrocken gezwungen war, zurückzuweichen.
Verständlicherweise wollte ich ihn weiter im Auge behalten und fand mich umgehend mit dem Rücken an den Baum gepresst wieder, er vor mir stehend, seine Hände links und rechts über meinen Schultern am Stamm abgestützt.
Oh, Mist.
Mist, Mist, Mist.
Jetzt saß ich in der wortwörtlichen Falle. Die Schlange hatte das Kaninchen gepackt. Wie hatte ich nur so dumm sein können, mich in so eine gefährliche Situation zu manövrieren? Wäre ich doch bloß daheim geblieben, dann wäre ich jetzt sicher und dieser Typ mir nie begegnet.
Seine ruhige, angenehme Stimme holte mich zurück aus meiner rasant aufsteigenden Panik.
„Willst du immer noch wissen, wie ich heiße?“
Doch bevor ich ihm darauf antworten konnte, küsste er mich. Er drückte seine Lippen auf meine, sacht und sinnlich, voll und feucht. Ein Blitz durchfuhr mich auf der Stelle. Erst wollte ich mich wehren, doch sein Mund erstickte jeden Protest im Keim. Er schmeckte wie flüssige Schokolade auf einem Bett aus Vanilleeis und Erdbeeren, so betörend sanft und weich wie Samt, der sich an nackte Haut schmiegte. Er hatte mich vollkommen überrumpelt, zudem küsste ich keine Fremden mitten im nächtlichen Nirgendwo. Doch ich konnte einfach nicht anders, als mich diesem Kuss hinzugeben, einem Kuss, der gleichzeitig so lieblich und doch forsch war. Ich hatte wirklich noch nie einen gänzlich Unbekannten geküsst; ein anständiges Date vorweg war stets die Grundbedingung gewesen. Dieser Mann jedoch ließ alle meine Vorsätze einfach dahinschmelzen wie Butter in der Sonne. Er übernahm die Kontrolle über die Situation, über mich. Und das Merkwürdige war: Obwohl mich dieser Umstand auf der Stelle hätte verärgern müssen, machte es mir nichts aus. Rein gar nichts. Ich hatte noch nie so sinnliche Lippen gekostet, noch nie eine solche Kraft hinter dem Schleier weicher Versuchung gespürt. In diesem sanften Kuss lag so viel mühsam gezügeltes Verlangen, wie bei einem Tiger, der hinter seinen Gitterstangen auf und ab schlich, nur darauf wartend, freigelassen zu werden. So wunderbar sinnlich und doch unsagbar gefährlich. Mir wurde langsam schwindelig, und ich drohte in die Knie zu sacken. Er schien zu ahnen, was in mir vorging, lehnte seinen schlanken Körper vorsichtig gegen meinen und legte seine rechte Hand auf meine Hüfte. Das half mir zwar, nicht umzufallen, sorgte aber auch dafür, dass im Bruchteil einer Sekunde dort, wo er mich berührte, eine Hitze durch meine Nervenbahnen schoss und Stellen erweckte, von denen ich dachte, sie seien schon längst nicht mehr am Leben gewesen. Diese Berührung spülte meine letzten Hemmungen fort, nahm mir die Fähigkeit zu denken, und so küsste ich ihn zurück mit einer Hingabe, die ich bei anderen bisher nur als Schwäche empfunden hatte, offenbar aus Angst, sie mir selber eines Tages eingestehen zu müssen. Mir eingestehen zu müssen, dass ich doch nicht immer alles kontrollieren konnte.
Seine Zunge streichelte meine Lippen und liebkoste sie so vorsichtig, dass er in diesem Moment alles von mir hätte haben können. Ich konnte nicht anders und hieß ihn mit der meinen willkommen. Er reagiert prompt und erforschte meinen Mund so neugierig und drängend, dass ich hierdurch nur erahnen konnte, wozu er wohl mit anderen Körperteilen in der Lage war. Und während ich noch überlegte, ob ich tatsächlich auf der Stelle alle meine Prinzipien vergessen und mich mit ihm in die Büsche schlagen sollte, verließ er mit diesem engelsgleichen und doch sündhaft köstlichen Mund meine Lippen, um mit den seinen ein Wort zu formen.
Einen Namen.
Seinen Namen.
„Daron.“