Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 12
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Kaum in meine Wohnung zurückgekehrt, merkte ich, dass sich meine sonst schon nicht sehr warmen Füße – typisches Frauenleiden – mittlerweile in wahre Eisblöcke verwandelt hatten. Vor lauter Panik und Verwirrung war ich mal glatt barfuß in die Nacht getreten.
Super.
Ich tapste in die Küche, wo ich mir schnell den Wasserkocher befüllte und anstellte. Eine Wärmflasche würde wahre Wunder wirken. Während das Wasser langsam zu kochen begann, drehte ich den Zweig samt dem daran befindlichen sonderbaren Präsent in meinen Händen und befühlte das dunkle Haar. Es war so weich und hatte einen wunderbaren Glanz. Meine Denkerfalte auf der Stirn weitete sich dagegen spürbar zum rauen Grand Canyon aus. Das alles ergab keinen Sinn. All die Fragen, die mir bereits auf dem Balkon durch meine Hirnwindungen geschossen waren, rotierten in meinem Kopf wie manche musikalische Endlosschleife einer Telefonhotline. Aber selbst bei einer Hotline bekam man irgendwann mal Antwort, während hier niemand den gedanklichen Hörer abnahm. Das machte mich allmählich wütend. Das und die Überlegung, was sich der Scherzkeks, der dahintersteckte, wohl dabei gedacht hatte, es nicht mal für nötig zu befinden, zumindest anständig an die Scheibe zu klopfen. Nein, stattdessen hatte er lieber einen Abgang auf Französisch hingelegt und kindisch kleine Steine geworfen. Wie alt war der Kerl, fünfzehn?
Meine Wut kochte parallel zum Wasser hoch, sodass ich vor mich hin schimpfend meine Wärmflasche füllte und mich mit ihr auf die Couch verzog. Mit gut temperierten Füßen ließ es sich einfach besser denken. Die wohlige Wärme kroch leider nur langsam meine blau gefrorenen Füße hinauf, und je mehr ich mir das Hirn zermarterte, desto stinkiger wurde ich. Auch so eine Macke von mir: Wenn ich mir etwas nicht gleich erklären konnte, verunsicherte mich das zutiefst, und Verunsicherung konnte ich gar nicht leiden.
Weil es bedeutete, dass ich über etwas keine Kontrolle besaß.
Dass ich etwas, was mich betraf, völlig aus der Hand geben musste.
Das ging mal gar nicht; schließlich konnte man meiner Meinung nach nur sich selber trauen. Diesen Umstand hatte ich schon frühzeitig erkennen müssen. In der Schule war ich einst eine pummelige Streberin mit null Sozialkontakten gewesen, die sich nichts sehnlicher wünschte als echte Freunde. Fürs Draufhauen und Hänseln war ich meinen Klassenkameraden immer willkommen, doch kaum war ihnen eingefallen, dass in Latein eine Hausaufgabe zu erledigen gewesen war, umgurrten sie mich mit den liebsten Worten, den freundlichsten Absichten und dem Versprechen, sie würden mich ab sofort in Ruhe lassen. Was sie dann auch taten. Und zwar genau so lange, bis sie abgeschrieben hatten. Kaum war das letzte Wort gekritzelt und das Heft zugeschlagen, fingen die Sticheleien wieder von vorne an. Kinder konnten so grausam sein.
Ab da war mir klar geworden: Ich würde mich nie wieder auf das Wort eines anderen verlassen.
Dann blieb einem wenigstens der Verrat erspart.
Sechzehn Jahre später nun saß ich in einer kleinen, schnuckeligen Wohnung um genau zwei Uhr siebenunddreißig auf dem Sofa, eingemummelt in meine blaugelbe Lieblingsdecke, die Wärmflasche auf den Füßen und betrachtete weiterhin den kleinen Ast, den ich inzwischen auf den Couchtisch gelegt hatte. Ich wollte lieber ein bisschen Abstand zwischen mich und das Ding bringen. Wer konnte schon wissen – vielleicht war es ja gar kein Geschenk, sondern eine Art Platzhalter, in dem sich ein Fluch befand.
Ha, ja, ein Fluch, sicher.
Ich schalt mich innerlich wegen so viel Fantasie, oder sollte ich lieber Realitätsverlust sagen? Egal wie ich es drehte und wendete, ich konnte mir keinen Reim auf dieses Ding machen. Aber eines war sicher: Es sollte eine Botschaft sein.
Aber was für eine?
Verdammt, benutzte denn heutzutage niemand mehr Stift und Papier?
Ein Brief im Briefkasten wäre mir wesentlich lieber gewesen. Oder ein schönes Kärtchen. So eins mit zwei schlafenden Welpen darauf. Ja, erwischt, ich liebte diese kitschigen Tierfotos. Verklagen Sie mich doch!
Während ich mir also das Hirn runzlig dachte und sich als Resultat keine Erleuchtung einstellte, sich dafür aber langsam meine Kopfschmerzen wieder meldeten, kam ich zu dem Entschluss, ich sollte dringend eine Runde frische Luft tanken. Mittlerweile war es drei Uhr in der Frühe, und auf den Straßen war keine Menschenseele mehr unterwegs. Ein bisschen Bewegung würde nicht nur meinen Brummschädel vertreiben, sondern ihn auch mal ein wenig frei pusten. Frei pusten von dem ganzen Gedankenwirrwarr, der sich hinter meinen Augen angesammelt hatte und nun auf eben jene drückte, so als würden sie jeden Moment aus meinem Kopf herausfallen.
Schnell schlüpfte ich in meine Jeans und die warmen Winterschuhe, die inzwischen gut getrocknet waren. Meinen rosa Kuschelpulli ließ ich an; wozu schick machen, wenn man mitten in der Nacht nur eine Runde mit dem Fahrrad drehen wollte? Lediglich ein wenig Concealer tupfte ich, doch nicht so ganz uneitel, auf meine Augenringe, aber das ganz große Make-up, ohne das ich in der Regel nie das Haus verließ – und war es auch nur, um den Müll wegzubringen –, blieb unbeachtet in der Schminktasche verstaut. Eine schwarze Mütze passend zu meinem schwarzen Mantel aufgesetzt, meinen pinkfarbenen Lieblingsschal umgeschlungen, et voilà! – schon konnte es losgehen.
Keine zehn Minuten später holte ich meinen kleinen Drahtesel aus dem Keller. Er war schon sehr alt und ziemlich klapprig, doch erfüllte er immer noch brav seinen Zweck. Ich hatte mir das Geld dafür einst als Teenager durch das Austragen von Zeitungen mühsam zusammengespart; meine Eltern hatten sich leider ein solches Geschenk nicht leisten können. Als Busfahrer verdiente man einfach nicht die Welt, und als Kassiererin im Supermarkt erst recht nicht. Aber ich wollte nicht undankbar sein: Ich hatte eine schöne Kindheit gehabt, und echten Mangel gab es nie. Nur Extras, die musste ich mir eben selbst erarbeiten. Als Papa starb, erhielt meine Mama eine nicht gerade unerhebliche Summe von seiner Lebensversicherung ausgezahlt, sodass sie ab sofort nicht mehr derart knapsen musste. Dieses alte, silbergraue Fahrrad war meine erste eigene, hart erarbeitete Investition gewesen, und mir bedeutete das immer noch eine Menge. Für kein Geld der Welt hätte ich es hergegeben, ich würde es fahren, bis es mir unter dem Hintern auseinanderfiel – stand es doch dafür, dass Träume wahr werden konnten, wenn man nur fest daran glaubte und arbeitete.
Die kalte Novemberluft knallte mir ins Gesicht, als ich in die Pedale trat, und für einen Moment fand ich meine Idee gar nicht mehr so gut wie noch vor zwei Minuten. Aber jetzt saß ich schon einmal auf dem Sattel und würde mich mindestens eine halbe Stunde lang auspowern. An Schlaf war sowieso grad nicht zu denken. Und, ehrlich gesagt, machte es auch irgendwie Spaß, zu solch nachtschlafender Zeit durch menschenleere Gassen und Straßen zu fahren, die blinkenden Neonreklamen der Schnellimbisse zu begutachten, hier und da einen neugierigen Blick in ein beleuchtetes Fenster zu werfen und dabei nicht wirklich auf vorbeirasende Autos achten zu müssen. Ich radelte durch meine Nachbarschaft, nahm die erste Querstraße rechts und fuhr einfach drauflos, ohne ein wirklich konkretes Ziel. Die Pfützen spiegelten die Leuchtreklamen der Geschäfte wider und schienen deren Glanz zu verdoppeln, als ich hindurch fuhr. Hier und da stieg mir neben dem kalt-nassen Novemberhauch eine Brise verschiedenster Gerüche und Gewürze in die Nase. Man glaubt ja gar nicht, wie viele Leute sich um drei Uhr nachts noch etwas kochen. An der einen Ecke duftete es nach leckerem Fladenbrot, das die Leute in der türkischen Bäckerei gerade frisch aus dem Ofen geholt hatten, an der nächsten nach einem saftigen Hackbraten wie dem von meiner Mutter. Da ich seit fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte, reagierte mein Magen auf die diversen Gerüche äußerst sensibel. In Kombination mit der ungewohnten Stille der Stadt fühlte ich mich dabei fast wie Indiana Jones auf der Suche nach dem verlorenen Eintopf. Immer weiter trieb mich meine Fahrt und die Neugier, welches Großstadtkleinod sich wohl hinter dem nächsten Häuserblock verbergen mochte.
So bemerkte ich den Stadtpark erst, als ich um die letzte Ecke bog und die Straße nur nach rechts oder links führte. Geradeaus offenbarte sich lediglich der Fahrradweg des großen Grüns, das zu dieser nächtlichen Zeit vielmehr wie ein rabenschwarzes Loch inmitten all der Hochhäuser klaffte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich hierher gelangt war, geschweige denn, wie lange ich geradelt war; so sehr hatte ich mich von all den vielen neuen Eindrücken ablenken lassen. Ich blieb stehen und stieg zögerlich vom Fahrrad. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf, der die Haare auf meinen Armen Tango tanzen ließ.
Der Fremde unter der Pappel.
Der Ast auf meinem Balkon.
Die plötzliche Lust, nach draußen zu gehen.
Und nun stand ich hier an der Kreuzung. Irritiert, verwirrt und irgendwie auch ein klein wenig ängstlich. Na gut, nicht nur ein klein wenig: Ich hatte die Hosen in Lichtgeschwindigkeit gestrichen voll. Es war alles so seltsam surreal, und doch schien sich auf einmal ein Gedankensplitter nahtlos an den nächsten zu fügen. Wie bei einem Puzzle, bei dem man mit dem Rahmen beginnt und nun das vierte Eckstück einsetzt. Die Frage war nur: Welches Bild würde entstehen?
Ich schüttelte den Kopf. Zu wenig konnte ich das alles rational erklären, zu sehr ängstigte mich das bisherige Gedankenspiel. Andererseits … Wenn ich mich schon mal hier befand, warum nicht mal zu meinem Lieblingsbaum fahren und nachsehen, ob der Fremde nicht zufällig auch da war? Oder eine weitere Botschaft hinterlassen hatte? Oh, Mann, ja klar, Aline, warum nicht auch gleich in der Psychiatrie anrufen und fragen, ob sie heute noch ein Bettchen für dich beziehen würden? Ich schalt mich lautstark fluchend wegen dieser abwegigen Gedanken und war froh, weit und breit keinen einzigen Menschen zu sehen. Meine Fantasie ging gerade ordentlich mit mir durch, und ich stellte erleichtert fest, dass sich irgendwo in meinem Hirn doch noch eine kleine, leise Stimme der Vernunft meldete, die mir zuflüsterte: „Was, wenn das alles ein riesengroßer Streich ist? Wenn dich jemand so richtig reinlegen will?“ Ja, da kamen sie wieder hoch, die längst vergraben geglaubten Erinnerungen …
Damals in der achten Klasse erhielt ich einen vermeintlichen Liebesbrief meines heimlichen Klassenschwarms. Er wolle sich nach der Schule mit mir hinter der Turnhalle treffen. Ich sollte doch bitte den beigelegten knallroten Lippenstift tragen, er fände das an Frauen so sexy.
Na, Sie können sich denken, was dann kam. Eine Horde lachender Teenies, zwei Eimer Wasser und eine besonders großzügige Demütigung hatten mir damals einen der schlimmsten Tage meiner Jugend beschert.
Doch jetzt war ich erwachsen, schlank und selbstbewusst und sah für meine Begriffe wirklich richtig gut aus. Nicht übermäßig spitze, aber durchaus vorzeigbar. Und egal, welchen Scherz sich dieser Kerl mit mir erlaubte – er würde keinen Spaß daran finden, sich ausgerechnet ein ehemaliges Klassenopfer zur Zielscheibe erkoren zu haben. Das würde er noch früh genug merken.
Mit einer guten Portion Wut trat ich in die Pedale, fuhr geradeaus über die Straße, mitten hinein in das dunkle Loch der Ungewissheit.