Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 9
Оглавление1
Ich begegnete ihm zum ersten Mal an einem regnerischen Novemberabend.
Die Tropfen prasselten herab auf meinen kleinen, pinkfarbenen Taschenschirm, als ich vom Büro zur nächsten Bushaltestelle eilte. War mal wieder klar, dachte ich. Die Wolken hätten sich ja noch so lange geschlossen halten können, bis ich im Bus sitze, aber nein, wer ewig arbeitet, wird auch noch entsprechend bestraft. So wie immer halt.
Dunkelheit und kalte Nässe waren zwei Dinge, die ich beide alleine für sich schon nicht mochte, denn ich war eher ein sonniger Wüstentyp, dem es gar nicht trocken und heiß genug sein konnte. Eine Kombination aus Beidem glich somit einem gekonnt ausgeführten Faustschlag in mein Gemüt. Knock out in der ersten Runde. Im November ging ich mental öfter mal zu Boden. Da trösteten auch die ersten Lebkuchen der nahenden Weihnachtssaison nicht, die ich mal wieder unangetastet mit nach Hause trug, weil ich auf der Arbeit nicht zum Essen gekommen war.
Ich arbeitete als Reklamationssachbearbeiterin in der Münchner Zweigstelle eines großen amerikanischen Zigarettenimperiums. Reklamationen an sich waren bereits eine Herausforderung, und Zigaretten in Deutschland ein heikles Thema. Aber ich mochte meinen Job und verdiente auch nicht gerade schlecht damit. Sicher war es oftmals stressig, und es gab Tage, da hätte ich das unaufhaltsam klingelnde Telefon mit unzufriedenen Kunden am anderen Ende der Leitung gerne mal gepflegt an die Wand gepfeffert, doch – ganz ehrlich – wo gab es das nicht? Zudem schätzte ich meine Kollegen sehr. Stimmte das Team, war jeder Stress nur halb so schlimm.
Ich hatte auf meinem Tisch noch schnell das letzte Post-it für den morgigen Tag befestigt mit der Notiz, Harry Steet anzurufen, und dann nach draußen geblickt, was ich mir eigentlich hätte sparen können. Wenn man vom Licht ins Dunkel guckte, sah man nämlich – nichts. Nur eine schwarze Wand, die direkt hinter den schon nicht mehr ganz so toll isolierten Fensterscheiben begann. Als hätte während des letzten Telefonats jemand eine Studiokulisse vor mein Bürofenster geschoben oder einen Vorhang zugezogen. Allerdings ziemlich unwahrscheinlich im dritten Stock. Mein Gott, warum war es bloß wieder so schnell Nacht geworden? Es war doch erst neunzehn Uhr.
In diesem Moment hatte ich sie gehört – die kleinen nassen Boten des Himmels, wie sie mit einem besonders zynischen Gruß für Aline Heidemann an die Scheiben klatschen. Als wären sie flüssige Kamikazeflieger, die nur geschickt wurden, um nach Übermittlung ihrer Botschaft – zu lang gewartet, Pech gehabt! – milliardenfach auf Straßen und Fensterscheiben zu zerschellen.
Und auf meinem pinkfarbenen Taschenschirm. Ich liebte den kleinen knalligen Helfer gegen die Armee der Regentropfen. Es tat einfach gut, ein wenig Farbe mit sich herumzutragen. Gerade wenn das Wetter schlecht war. Probieren Sie das mal aus!
Natürlich nahm ich auf meinem Weg zur Haltestelle gleich die erste große Pfütze, die mir in die Quere kam. Zack!, und rein mit dem rechten Fuß. Da halfen auch keine gefütterten Winterschuhe mehr, des Fußes Schicksal war besiegelt. Und das der dazugehörigen Socke auch. Voll eingetunkt – na super!
Über meine Unachtsamkeit fluchend überquerte ich die viel befahrene Hauptstraße an der dafür erst kürzlich installierten Fußgängerampel. Die Bushaltestelle lag gleich fünf Schritte rechts daneben – ein Glück! Ein Blick auf den Fahrplan: Der nächste Bus fuhr erst in siebzehn Minuten – kein Glück! Aber daran war ich bereits gewöhnt. Mein Timing war schon immer lausig gewesen.
Wenigstens war das Haltestellenhäuschen überdacht und bot ganze vier Sitzgelegenheiten. Von denen waren aktuell drei mit diversen Fast-Food-Pappschachteln vermüllt. Nein danke, ich hatte den ganzen Tag im Büro gesessen, ein wenig Stehen würde mir nun sicher nicht schaden. Bei der Wahl meiner Sitznachbarn – sofern man denn im öffentlichen Nahverkehr eine hatte – war ich, ehrlich gesagt, pingelig. Manche rochen etwas streng. Da nahm ich dann lieber Abstand und einen halbstündigen Stehendtransport in Kauf. Jeder hatte so seine Prioritäten. Und wenn es nur Pappschachteln waren.
Während ich meinen Schirm ausschüttelte und ein wenig Abstand zwischen die vorbeifahrenden Autos und mich brachte – große Pfützen plus schnelle Wagen hoch zwei ergaben einen nassen Passanten – ließ ich meinen Blick ein wenig über die Bäume und Sträucher des direkt hinter dem Wartehäuschen beginnenden Parks schweifen. Im Sommer war dieser Park eine reine Oase der Ruhe. Ich verbrachte dort so gerne meine Mittagspause unter meinem Lieblingsbaum, einer stattlichen Pappel. Meiner Mutter waren Pappeln nie geheuer gewesen, man hatte ihr als Kind einst eine Gruselgeschichte von einer Prinzessin erzählt, die nachts auf der Flucht mit ihrer Kutsche ins Moor gestürzt war, während der Wind klagend durch die umstehenden Pappeln rauschte. Seitdem bedeuteten Pappeln für sie Unheil und Tod. Ich konnte diesen Glauben nicht teilen. Vielmehr hatte gerade diese Geschichte meinem Lieblingsbaum noch einen weiteren mystischen Hauch verliehen. Es war bisher nicht eine Mittagspause unter meiner Pappel vergangen, in der ich nicht an diese Geschichte dachte. Nennen Sie mich ruhig morbide. Mir gefiel das.
Von der Bushaltestelle aus war die Pappel relativ gut sichtbar, in einiger Entfernung befand sich zudem eine kleine Parklaterne, die den tagsüber gut benutzten Teerweg ein wenig erhellte. Jetzt allerdings war kein Mensch mehr unterwegs, selbst die Gassigeher hatten ihre Fiffis offenbar gebeten, sie mögen ihr Geschäftchen doch im heimischen Garten erledigen oder gnädigerweise um ein, zwei Stunden nach hinten verschieben. Manchmal jagte man wirklich keinen Hund vor die Tür, wie das Sprichwort so sagte.
Umso irritierter war ich, als ich in all der anthrazitgrauen, vom schimmernden Laternenlicht hier und da stellenweise gelblich verfärbten Dunkelheit die Umrisse eines Mannes ausmachte, der an meinem Lieblingsbaum lehnte. Erst dachte ich, es sei womöglich ein Angestellter der Firma, der auf dem Nachhauseweg Schutz vor dem überraschend einsetzenden Regen gesucht hatte. Immerhin möglich und einleuchtend. Doch irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass es sich hier nicht um einen Kollegen handelte. Sicher konnte man in einer zweihundertfünfzig Mann starken Zweigstelle nicht jeden Menschen persönlich kennen. Man entwickelte allerdings beim jahrelang praktizierten täglichen Kantinengang einen gewissen Überblick über die zur Firma gehörenden Damen und Herren.
Nein, dieser Mann – es musste einer sein, denn trotz Dunkelheit und einiger Entfernung war die Statur eindeutig männlich; Frauen erkennen das ja auf hundert Kilometer gegen den Wind sogar noch mit verbundenen Augen – war mir bisher noch nie untergekommen. Weder in der Kantine noch sonst wo außerhalb der Reichweite meines Arbeitgebers. Da war ich mir einfach sicher. Seine Silhouette wurde leicht von dem kleinen Laternchen angestrahlt. Auch wenn er ein gutes Stück weit weg war, erkannte ich, dass er mit dem Rücken am Baum lehnte, das rechte Bein lässig am Stamm angewinkelt. Ich zwickte meine Augen angestrengt zusammen, um, dem Regen und der Dunkelheit trotzend, mehr erkennen zu können. Seine Hände steckten in seinen Jackentaschen, sein Kopf lehnte am Stamm und sein Gesicht war der Baumkrone zugewandt. Lange dunkle Haare fielen offen und lässig wie ein glänzender Vorhang über seine Schultern, und an seinen klobigen Schuhen blitzten hier und da kleine Nieten im Laternenschimmer auf. Das Ganze wirkte irgendwie seltsam friedlich. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte gesagt, er genoss tatsächlich den abendlichen Regen. Genoss es, im Dunkeln am Stamm der Pappel lehnend dem Prasseln der Tropfen auf das nicht mehr ganz so dichte Blätterdach zu lauschen und dabei den frischen Duft, den der Regen mit sich brachte, einzuatmen. Ich wusste nicht, wieso mir dieser Gedanke kam – es mochte durchaus das Surreale des Augenblicks gewesen sein. Zumindest kam es mir surreal vor – Sie erinnern sich, von wegen dunkel und nass in Kombination mit mir, ein No-Go.
Was tat dieser Kerl da? Und wieso tat er das? Fragen über Fragen türmten sich in meinem Kopf, ohne dass ich sie da überhaupt haben wollte. Was ging mich schon irgendein Fremder unter einem Baum an? Nun ja, auch wenn’s mir peinlich war zuzugeben, aber ich war von Haus aus schon immer recht neugierig.
In einem gesunden Maß, nicht übertrieben.
Neugier war schließlich der Katze Tod.
Sollte der Typ doch machen, was er wollte. Aber wieso faszinierte er mich dann so sehr? Seine Lässigkeit, so wie er dort am Baum lehnte, und gleichzeitig auch seine Eleganz, als würde er der Nacht entstammen, sich in ihr zu Hause fühlen. Ich konnte mir hierauf einfach keinen Reim machen.
Während ich noch angespannt versuchte, Ordnung in mein plötzlich so chaotisches Oberstübchen zu bringen und zeitgleich den unbekannten Fremden zu observieren, passierte es. In der einen Sekunde blickte der Mann noch nach oben, in der nächsten drehte er seinen Kopf und blickte genau in meine Richtung. Als hätte er gespürt, dass ich ihn schon eine Zeit lang beobachtet hatte. Mir schoss schlagartig das Blut ins Gesicht. Er hatte mich offenbar erwischt. Nur was sollte ich jetzt tun? Verschämt wegschauen? Nennen Sie mich trotzig, aber das war nicht mein Stil. Wenn ich jemanden anstarrte und dabei erwischt wurde, dann stand ich dazu, und war es für mich auch noch so peinlich. So standen wir also in einiger Entfernung voneinander – er unter seinem Blätterdach, ich unter dem Blechdach der Haltestelle – und starrten einander an. Ich konnte seine Augen nicht genau sehen, was mir ehrlich gesagt gar nicht so unrecht war. Dass sich seine Mundwinkel langsam nach oben bewegten und sich in einem hypnotisierenden Lächeln eine blendend weiße Zahnreihe offenbarte, das konnte ich dagegen sehr gut erkennen. So weiße Zähne hatte ich noch nie gesehen und war schwer am Überlegen, ihn tatsächlich zu fragen, wo er das Bleaching habe machen lassen. So langsam verschwand das Blut aus meinem Gesicht und ließ dafür meine Haut erschauern. Dieses Lächeln, so selbstsicher, so wissend um seine Wirkung, jagte mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Verdammt, was war nur los mit mir?
Ich hatte plötzlich das Gefühl, nackt an der Haltestelle zu stehen. Dieses Lächeln verunsicherte mich zutiefst. Es war so durchdringend, so sanft und doch ausdrucksstark. Das war kein „Hallo, schön Sie zu sehen“-Lächeln, das war ein „Hallo, schön, dass Sie morgen mit mir frühstücken werden“-Lächeln. Jeder Mann hatte so ein Lächeln. Es war das Lächeln, das sich normalerweise zeigte, wenn die Frau über das erste Kennenlernen und die ersten Küsse hinausgegangen war und dem Mann signalisiert hatte, dass sie bereit war, ihn heute Nacht bei sich behalten zu wollen. So siegessicher, so erobernd, so unendlich zufrieden mit sich selbst. Hase gejagt, Beute geschnappt. Nur fühlte ich mich selten wie ein Hase, und außerdem hatten wir uns noch nicht mal vorgestellt, geschweige denn die erste Kennenlernphase hinter uns gebracht. Der Kerl war mir völlig fremd. Trotzdem verunsicherte er mich über die Maßen und weckte diesen kleinen Kolibri, der sich in solch aufregenden Situationen stets schlagartig in meinem Magen ans Fliegen machte. Als würden seine kleinen, emsig flatternden Flügel meine Magenwand streifen. Zeitgleich wurden mir dann auch noch die Knie weich. Jetzt reicht’s!, dachte ich mir. Es kann doch nicht sein, dass dich ein vollkommen Fremder mit einem kleinen Zahnpastalächeln so aus dem Takt bringt. Reiß dich mal zusammen! Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren, ganz besonders über mich selbst. Zumindest außerhalb des Schlafzimmers. Doch egal wie viel Mühe ich mir gab, ich konnte einfach den Blick nicht von dieser dunklen, schlanken Gestalt unter meinem Lieblingsbaum abwenden, so faszinierend, so geheimnisvoll verführerisch, wie er dort stand, als hätte er tagtäglich für diese besondere Pose geübt. Oh gut, mein Zynismus funktionierte tatsächlich noch ein bisschen und half mir zumindest, aus meinem Kolibri nicht eine ganze Vogelschar werden zu lassen. Das war dann nämlich der Zeitpunkt, an dem es für mich und nicht selten für einige Beteiligte brenzlig wurde, der einzige Zeitpunkt, an dem ich mir gestattete, meine Fassung willentlich zu verlieren und mich hemmungslos einfach dem hinzugeben, was mein Körper verlangte. Einfach genommen zu werden, einfach Frau zu sein, mit Haut und Haar, ekstatisch und leidenschaftlich. Da hatte schon der eine oder andere Mann nicht schlecht gestaunt. Hinter meiner vertrauensvollen Fassade lauerte tief in mir drin eine wilde Katze, die nur darauf wartete, sich in die Kolibrischar zu stürzen, sie zu reißen und somit den Weg frei für mehr zu machen. Und während meine Gefühle in mir gerade Achterbahn fuhren – vom Kopf in die Füße und wieder zurück mit prickelndem Zwischenstopp zwischen meinen Beinen – wurde das fremde Lächeln immer breiter, fast zu einem Grinsen, so als wüsste der Mann in diesem Moment genau, was in mir vorging. Als konnte er hören, wie sich mein Atem ein klein wenig beschleunigt hatte, als konnte er sehen, was sich da unter meiner Kleidung und unter meiner Haut abspielte, als konnte er mein sich anbahnendes Verlangen nach ihm riechen.
Riechen?
O Gott, ich müffelte doch nicht etwa?
Dieser unsinnige Gedanke half mir, mich wieder einigermaßen mental an die Bushaltestelle zurückzuversetzen. Sie sehen, ich konnte selbst die aufregendsten Szenen ruinieren. So war das eben, wenn man nicht gerne unten lag. Ich bestimmte, was ich fühlte und wann ich es fühlte. Und kein anderer. Mal ganz abgesehen davon, dass der dunkle Fremde und ich viel zu weit auseinander waren, als dass er auch nur mein Parfüm hätte erschnüffeln können. Mein RicciRicci, heiß geliebt und stets eine Investition wert. So schwer und gleichzeitig doch leicht, wie eine Blumenoase mitten in der kargen, unerbittlichen Wüste …
Ein Lachen riss mich aus meinen Gedanken. Ein Lachen voller Versprechungen, herzlich und echt wie Holz mit dem vollen Ton von Waldesrauschen. Ein Lachen, so tief wie die Wurzeln meiner Pappel in der Erde und so intensiv wie die wärmende Sonne nach einem Regenschauer. Ich schüttelte kurz den Kopf, ordnete meine Gehirnwindungen neu und konzentrierte mich abermals auf den Fremden unter meinem Baum.
Er war weg.
Wo war er hin? Und wieso hatte ich nicht gesehen, dass er sich bewegt hatte?
Super, Aline, ganz super. Mal wieder kurz die Kontrolle verloren und ein geheimnisvolles Beobachtungsobjekt gleich dazu. Verdammt! Ich ließ meinen Blick über den gesamten Park schweifen – oder vielmehr über das, was ich in der Dunkelheit noch erkennen konnte.
Nichts. Nur der Regen, der unaufhaltsam auf die Blätter schlug und blechern gegen das Dach der Bushaltestelle trommelte.
Während ich noch so grübelte und versuchte, meiner sich überschlagenden Gedanken Herr zu werden, quietschten auch schon laut die Bremsen des Busses hinter mir.
Ach, stimmt, ich wollte ja eigentlich nach Hause.