Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 16
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Es war erst halb zwölf gewesen, als ich nach Hause gekommen war. Achtlos hatte ich meine Klamotten auf den Stuhl neben meinem Bett gefeuert, den Handywecker noch schnell auf sechzehn Uhr gestellt und mich in die kuschelig weichen Laken verkrochen. Meine Lieblingsbettwäsche aus Flanell mit den roten Elchen drauf ließ mich sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf gleiten. Nicht mal meine ansonsten auftauchenden Visionen hatten eine Chance gehabt, so fertig war ich gewesen. Kurz vor vier war ich dann von alleine wach geworden und hatte mir als Erstes eine richtig heiße Dusche gegönnt. Das Perlen des Wassers auf meiner beinahe ausgedörrten Haut hatte sich so gut angefühlt, und der Duft meines Lieblingsduschgels hatte meine Lebensgeister wieder geweckt. Es war ein schweres Duschgel, Orient Temptation, zu dem ich auch noch die passende Lotion hatte. Den Namen fand ich ziemlich bescheuert, aber der Duft ließ mich großzügig darüber hinwegsehen. Jedes Mal, wenn ich beides benutzte, schloss ich die Augen und stellte mir vor, durch einen arabischen Garten zu laufen mit jeder Menge Sträucher, Bäume und Hunderten exotischer Blumen in allen möglichen Pinkschattierungen, während sich hinter den weißen Mauern bereits die trockene, unbarmherzige Wüste erstreckte. Der schwere Duft der Blüten mischte sich mit dem heißen, flirrenden Charakter des rot schimmernden Sandmeers. Irgendwann wollte ich mal in die Vereinigten Arabischen Emirate und mir genau diesen Traum erfüllen. Irgendwann einmal die Wüste sehen. Irgendwann …
Doch nun hatte ich erst einmal ein anderes – nun ja, nennen wir es mal Problem – zu bewältigen : den heutigen Abend. Mir wurde schlagartig flau im Magen. Die Wohnung war präsentabel, da war ich immer sehr penibel. Es könnte ja in meiner Abwesenheit das Haus abbrennen und dann wollte ich nicht, dass die Feuerwehr in meiner Bude herumlief und sich dachte: Na, was wohnt denn hier für eine Schlampe? Der Dank für diese Paranoia gebührte meiner Mutter, die stets vor jedem Urlaub eine Rundumreinigung aus eben jenem Grund bei sich durchführte. Ich war mit diesem recht absurden Gedanken nun einmal groß geworden. Absurd deshalb, weil, wenn es brannte, die Feuerwehr reichlich andere Sorgen haben würde, als den Ordnungsgrad meiner Wohnung zu inspizieren. Trotzdem, so fühlte ich mich einfach wohler. Und wenn einmal in fünfzig Lichtjahren unangemeldet Besuch kam, so musste ich nicht wie meine Cousine Betty in helle Panik verfallen und meinen String vom Vortag unter dem Sofakissen verstecken. So geschehen an ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag, an dem ihre Familie, meine Eltern und ich sie überraschend am Abend besucht hatten. Betty, die sonst immer wie aus dem Ei gepellt aussah und stets Schuhe und Handtasche farblich aufeinander abstimmte, hatte an diesem Abend Glück. Ich fand den Slip und ließ ihn unbemerkt vom Rest der Gästeschar in meine Hosentasche wandern. In einem stillen Moment hatte ich ihn ihr später übergeben. Seitdem hatte ich bei ihr was gut. Die Wohnung war also aufgeräumt, Knabberzeug hatte ich auch im Vorratsschrank, und Wein wollte Daron mitbringen.
Daron.
Allein wenn ich an ihn dachte, wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Er war so faszinierend und gefährlich zugleich, ich konnte ihn einfach nicht in eine mir bekannte Kategorie einordnen. Mal ganz abgesehen davon, dass er mir noch ein paar Antworten auf einige höchst brisante Fragen schuldete. Da wollte ich ihn heute Abend definitiv drauf festnageln, egal wie anziehend er auf mich wirkte und wie unglaublich gut er küssen konnte.
Küssen … Nein, Aline, du reißt dich jetzt zusammen und denkst mit dem Kopf und nicht mit dem Unterleib, schalt ich mich. Auch wenn es da schon wieder verräterisch zu prickeln begann. Klamotten, ich brauch Klamotten, schoss es mir durch den Kopf, als ich auf meinen Wäschehaufen im Schlafzimmer blickte, zugegebenermaßen mein einziger Schwachpunkt in Sachen Ordnung. Hey, nobody’s perfect. Wollte ich Daron nicht im Handtuch die Tür öffnen, musste ich mich wohl oder übel für ein Outfit entscheiden. Nur für welches? Ich wusste zwar, was ich tragen konnte, doch mein letztes Date war ganze zwei Jahre her und ich doch ziemlich aus der Übung. Ich tat das einzig Richtige, griff zum Hörer und wählte Bettys Nummer. Zeit, meinen Gefallen einzufordern. Es dauerte eine Weile, bis Betty abhob. Im Hintergrund hörte ich laute Musik.
„Hey Cousinchen, was verschafft mir die Freude deines Anrufes?“, ertönte ihre für eine Frau ungewöhnlich tiefe Stimme. Mit der wäre sie der Star jeder Flirthotline gewesen. Stattdessen warf sie sich Tag für Tag einen weißen Kittel über und steckte die langen, blonden Haare zu einem Dutt, um als erklärtes Ziel in einem Labor neue Mittel gegen Darmkrebs zu erforschen. Schön und intelligent, eine Kombination, mit der sie reihenweise Männer an- wie auszog. Im Gegensatz zu mir genoss Betty ihr Singledasein in vollen Zügen und scherte sich nicht um das Gerede anderer, frei nach dem Motto: Man lebt nur einmal. Insgeheim wünschte ich mir, ich wäre mehr wie sie. Ein wenig mehr Sinn für Abenteuer und ein wenig weniger spießig. „Hallo Betty“, erwiderte ich ihren Gruß, „was ist denn bei dir los?“
„Nichts. Ich war gerade auf dem Stepper und hab meine Einheiten absolviert. Du solltest auch mehr Sport machen. Das wäre gut für deine Figur, und vielleicht lernst du dabei auch mal wieder einen netten Kerl kennen. Geht ja nicht an, wie lange du schon alleine bist. Ich hätte an deiner Stelle schon längst Spinnweben zwischen den Beinen angesetzt!“
Ihr Lachen ertönte vollmundig und echt, sodass ich ihr für diese Bemerkung nicht wirklich böse sein konnte. Betty war nie ein verklemmter Typ gewesen und sagte jedem ihre Meinung deutlich ins Gesicht, ob er sie hören wollte oder nicht. Und wenn ich ehrlich war, dann hatte sie ja recht. Ich trug bereits Spinnweben. Mit Staub oben drauf. Traurig, aber wahr.
„Darum ruf ich an“, antwortete ich ihr mit leicht belegter Stimme, „ich … hab da wen kennengelernt. Er kommt heute Abend zu mir.“
Weiter kam ich nicht, denn ein spitzer Schrei zerriss mir fast das Trommelfell, sodass ich den Hörer ein wenig auf Abstand halten musste.
„Nein, wie geil!“, quietschte meine Cousine am anderen Ende der Leitung, „Mann, Aline, das wurde aber auch Zeit, ich freu mich für dich! Erzähl, erzähl, wie heißt er, wie sieht er aus, wo hast du ihn kennengelernt …?“
Wie ein Schnellfeuergewehr schoss Betty eine Frage nach der anderen ab, sodass ich irgendwann unfreiwillig schmunzeln musste. Sie freute sich aufrichtig für mich, die gute Seele. Viele Menschen hielten sie für arrogant und leichtfüßig, verdammten ihren hohen Männerverschleiß und ihre lebenslustige Art. Ich dagegen schätzte sie als einen ehrlichen und herzlichen Menschen, der einfach nur nach seinem Stiefel lebte und dabei seinen Spaß hatte. Was gab es daran zu verurteilen?
„Betty“, musste ich sie unterbrechen, „Betty, bitte beruhige dich und hör mir mal zu. Sei mir nicht böse, ich möchte da noch nicht viel erzählen. Das ist noch total frisch, ich weiß selber noch nicht, was das ist und ob was draus wird. Ich muss den Kerl erst einmal in Ruhe abchecken.“
„Ah ja“, kicherte sie, „abchecken. Heute Abend. Bei dir zu Hause. Alles klar.“
Sie schien wirklich Mühe zu haben, nicht auf der Stelle loszuprusten. „Ja, abchecken. Im Sinne von reden. Sich kennenlernen.“
„Och, Aline, wie langweilig … hast du ihn denn wenigstens schon geküsst? Komm schon, du kannst mir nicht so eine bahnbrechende Neuigkeit aus deinem Universum hinknallen und dann erwarten, dass ich still halte und abwarte, was geschieht. Ein bisschen musst du mir schon entgegenkommen.“
Verdammt, da hatte sie irgendwie recht. Anfüttern und dann am ausgestreckten Arm verhungern lassen, das war wirklich nicht fair.
„Ja, wir haben uns geküsst“, antwortete ich ihr zögerlich und spürte nicht nur, wie mir bei dem Gedanken daran die Schamesröte ins Gesicht stieg, sondern auch, dass meine Stimme bei diesem Satz irgendwas Seltsames gemacht hatte. O Gott. Ich hatte ebenfalls gekichert.
„Wie war’s, wie war’s?“, jauchzte meine Cousine vor Neugier. Ihre Stepeinheiten schienen vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein.
Was sollte ich sagen?
Aufregend?
Verwirrend?
Unheimlich?
Ich entschloss mich, die Wahrheit zu sagen und dabei nicht zu viel preiszugeben.
„Schön, einfach nur schön.“
Betty kannte mich, sie wusste, das war in so einem Moment das Äußerste, was ich zu verraten bereit war, und gab sich artig damit zufrieden. Ich konnte förmlich hören, wie es sie innerlich drängte nachzubohren, doch tapfer schluckte sie all ihre Neugier herunter und erwiderte stattdessen: „Oh, Aline, ich finde das so toll! Sag, wie kann ich dir helfen?“
„Nun ja“, druckste ich etwas verlegen herum, „ich weiß nicht, was ich anziehen soll. Ich kenne ihn noch nicht so gut und möchte weder prüde noch leicht zu haben erscheinen.“
„Kein Problem. Trage einfach deine Lieblingsjeans, die mit den Löchern, und dazu das schicke rote Top mit dem Paillettenrand und den Spaghettiträgern, das ich dir zum letzten Geburtstag geschenkt habe. Das passt so gut zu deinen Haaren und betont deine wunderbar braunen Augen. Du hast es sowieso noch nie getragen, oder? Heute Abend ist genau der richtige Zeitpunkt, für diesen Moment habe ich es dir geschenkt in der Hoffnung, er möge noch vor deinem sechzigsten Lebensjahr eintreten.“
Ich ignorierte ihre kleine Spitze und fragte: „Meinst du wirklich? Also ich weiß nicht …“
„Na sicher!“, empörte sich Betty, „du weißt ja wohl, mit wem du hier sprichst, oder? Wenn jemand eine Ahnung davon hat, wie man auf Männer wirkt, dann ja wohl ich.“
Eins zu null für sie. Wobei man Bettys Beuteschema – Typ Harry – nicht ansatzweise mit meinem zukünftigen Gast vergleichen konnte.
„Bitte, Aline, zieh es an“, beschwor sie mich nahezu. „Ich verspreche dir, es wird einschlagen wie eine Bombe. In Kombination mit der Jeans und den roten Pumps, von denen ich weiß, dass sie bei dir ganz hinten im Schuhschrank schlummern, wirst du traumhaft aussehen. Verführerisch, aber nicht zu aufreizend. Genau die richtige Nuance auf dem schmalen Grad zwischen sexy und hexy. Dazu noch die kleinen Ohrstecker mit den Strassherzen, mehr brauchst du nicht. Rot ist einfach deine Farbe. Bitteee…“, nölte Betty schon fast wie ein kleines Kind, das unbedingt die Puppe aus dem Schaufenster haben wollte und dafür bereit war, für immer auf sein Taschengeld zu verzichten. Zumindest bis zum nächsten Ersten. Ich musste lachen.
„Okay, du hast mich überzeugt, ich trage das von dir vorgeschlagene Ensemble. Wenn das aber in die Hose geht, dann mach ich dich persönlich dafür verantwortlich!“
Schallendes Gelächter tönte mir aus dem Hörer entgegen.
„Na, und wie ich für dich hoffe, dass das in die Hose geht. Und zwar in deine Hose!“, grölte sie so sehr, dass ich in ihr Lachen einstimmen musste, auch wenn ich gar nicht wollte.
„Betty, du bist ein Ferkel!“, warf ich ihr entgegen und musste mir trotzdem eingestehen: So ganz unrecht wäre mir das dann auch nicht gewesen.
„Mach dich locker, Cousinchen. Und wenn du nicht willst, dass es heute bis zum Äußersten kommt, dann zieh dir die hässlichste Unterwäsche an, die du hast. Mein persönlicher Trick, wenn ich weiß, es könnte gefährlich werden, ich das aber auf jeden Fall vermeiden will.
Wenn du nicht willst, dass der Typ deinen Schlüpfer sieht, ist das der beste Schutz, den du dir selber geben kannst. Hat mich schon oft vor mancher Dummheit bewahrt. Na ja, nicht immer. Aber ab und zu.“
Erneut vernahm ich Bettys erotisch angehauchtes Kichern und bedankte mich bei ihr für die exklusive Stilberatung, für die sie extra ihre Trainingseinheit unterbrochen hatte.
„Vergiss nicht, mich morgen anzurufen und zu berichten!“, beschwor sie mich eindringlich. Ich versprach hoch und heilig, sie am nächsten Tag über den Erfolg ihrer Anweisungen in Kenntnis zu setzen, und verabschiedete mich, während Betty, noch immer vor Aufregung gackernd, wieder auf ihren Stepper stieg. Danach ging ich ins Schlafzimmer und suchte mir all die vorgeschlagenen Teile zusammen. Aus meiner Unterwäschekommode zog ich einen alten pinkfarbenen Hello-Kitty-String mit passendem BH heraus, was zwar nicht gerade hässlich war, aber dennoch so kitschig lächerlich, dass ich lieber im Boden versunken wäre, als mich der Welt beziehungsweise Daron so zu präsentieren. Anschließend schlüpfte ich in das Top, die Jeans und die Pumps und drehte mich vor dem Spiegel. Erstaunlicherweise hatte Betty recht gehabt, ich sah wirklich verdammt gut aus. Die Pailletten am Ausschnitt glitzerten einfach wunderschön im Zusammenspiel mit den Strassohrringen, und die kleinen Löcher der Jeans verpassten dem Glamour des Oberteils ein wenig Erdung. Toll! Betty hatte modetechnisch wirklich was auf dem Kasten, das musste man ihr lassen. Im Bad schaffte ich es mittels diverser Tübchen und Tiegelchen, meinem Gesicht eine durchaus vorzeigbare Optik zu verleihen, und selbst meine wuscheligen Haare ließen sich diesmal in eine passable Form bringen. Ich hatte gerade wenige Spritzer meines Lieblinsgduftes RicciRicci auf meinem Hals und den Handgelenken verteilt, als es an der Tür klingelte. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. O Gott!
Das war er.
Er!
Mein Puls beschleunigte innerhalb einer Sekunde von null auf hundert, und ich musste erst einmal tief ein- und ausatmen, bis ich die nötige Beherrschung fand, um an die Tür zu gehen. Okay, Aline, dann mal los. Und während ich noch zur Tür schritt, wurde mir schlagartig bewusst, dass Daron nach nur einem Kuss offenbar schon weitaus mehr für mich geworden war, als ich mir bisher hatte eingestehen wollen.