Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 18

Оглавление

10

Ich weiß nicht, wie lange wir uns geküsst hatten; mir kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. Irgendwann war aus vorsichtigem Herantasten eine leidenschaftliche Umarmung geworden, die uns im Strudel unserer Gefühle in den Abgrund der Begierde zog. Als unsere Lippen sich voneinander lösten, musste ich zunächst einmal kräftig Luft holen. Mein Herz schlug so schnell, dass ich dachte, es müsste zerspringen. Noch nie hatte mich ein Kuss so in seinen Bann geschlagen und mir das Gefühl gegeben, gleichzeitig frei und doch irgendwie zu Hause zu sein.

„Wow“, war das Einzige, was ich in diesem Moment sagen konnte, mehr gab mein überreiztes Hirn nicht her.

„Ja, wirklich ‚wow‘“, lachte Daron und gab mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. Da ich gerade nicht einmal mehr meinen Namen wusste, tat ich das Einzige, zu dem ich noch fähig war: Ich stimmte in sein Lachen ein. Es war so befreiend, so wunderbar zwanglos. So lagen wir auf meinem Sofa, er oben, ich unten, und lachten, berauscht von dem soeben Erlebten. Augenblick mal – wir lagen? Erst in dieser Sekunde wurde mir bewusst, dass ich mich völlig in seinem Kuss verloren und dabei nicht bemerkt hatte, wie Daron mich sanft in die Kissen gedrückt hatte. Mein Lachen erstarb, und anschwellende Panik füllte den Platz, an dem vorher noch Begehren und Heiterkeit regiert hatten. Zu schwer lastete sein Körper plötzlich auf meinem, zu gefangen fühlte ich mich unter seiner massiven Gestalt.

„Aline, was ist?“, fragte Daron augenblicklich, während sich im selben Moment eine tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn bildete. Er strich sich auf einer Seite unsicher das Haar hinters Ohr, sodass sich der schwarze Vorhang, von dem unsere Gesichter umhüllt gewesen waren, ein Stück weit wieder der Realität öffnete. Ich blickte nach links und erkannte meinen Couchtisch, die noch fast vollen Weingläser darauf und den Eingang zur Küche. Gott sei Dank war auf meine Vorsicht doch noch ein klein wenig Verlass und sie hatte mich gerade noch gerettet, bevor es für mich hätte brenzlig werden können. Für mich und meine moralischen Prinzipien. Und den Hello Kitty-Slip.

„Nichts, ich … ich weiß nicht, was da gerade mit mir passiert. Mit uns. Ich kenne dich doch überhaupt nicht, und trotzdem fühlt es sich an, als wäre es nie anders gewesen. Ich … ich glaube, ich habe einfach Angst.“

Das war, gelinde gesagt, die Untertreibung des Jahrhunderts. Hätte ich gekonnt, ich wäre in diesem Moment vor Schiss am liebsten auf Mausgröße zusammengeschrumpft, von der Couch gesprungen und hätte mich bis zum Ende meines kleinen, pelzigen Lebens zwischen den Wänden meiner Wohnung in meine Scham gehüllt.

Daron musste instinktiv gespürt haben, dass mich diese schnelle Art der Nähe zu überfordern schien. Er erhob sich von mir, fasste dabei mit seinem linken Arm unter meinen Rücken und zog mich mit sich in die Senkrechte, als wäre ich nichts weiter als eine kleine Puppe, die gerade mal so viel wog wie die Watte in ihrem Stoffkörper. Insgeheim war ich ihm sehr dankbar dafür, dass er so rücksichtsvoll und einfühlsam reagierte. Wie viele andere Männer, die ich schon kennengelernt hatte, hätten diese Situation schamlos auszunutzen versucht? Doch nicht er. Er war so ganz anders. Ein sanfter Riese, fiel mir in diesem Moment ein. Mein sanfter Riese.

So saßen wir beide nun wieder auf dem Sofa und blickten einander an wie zwei Teenager, die nicht wussten, wie sie die Stille überbrücken sollten. Während Daron mich weiter mit seinem linken Arm festhielt, hob er seine rechte Hand an meine Wange und streichelte mit seinem Daumen zärtlich über mein Gesicht. Seine Augen strahlten so viel Wärme und Geborgenheit aus, und doch war mir, als läge hinter diesen wunderschönen grünen Auen seiner Iris eine Traurigkeit, die so schwer wog, als würden sie die gesamte Last der Menschheit in sich bergen.

„Warum ist mir, als würde ich dich nicht erst seit gestern kennen?“, fragte ich ihn, nahm seine Hand in meine und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Innenfläche. So viele Linien waren auf ihr verzeichnet, so viele Verästelungen und kleine Furchen. Seine Hände waren so groß, und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich beim bloßen Anblick gedacht, es seien die Hände eines hart schuftenden Bauarbeiters. Doch nirgendwo waren Schwielen oder Risse zu erkennen, seine Haut war weich und unversehrt wie die eines Babys. Und sie roch so gut. Erneut bemerkte ich den Duft von Regen und Wind, Farnen und Moos, der besonders intensiv über seinem Handgelenk pulsierte.

„Warum ist mir, wenn ich in deine Augen schaue, als würde sich in ihnen die ganze Schönheit der Welt spiegeln und dahinter eine Nachdenklichkeit und Trauer, die so tief ist wie das Meer?“

Erneut legte ich ihm einen kleinen Kuss in seine Handfläche und vernahm einen leichten Seufzer. Als ich aufsah, trafen sich unsere Blicke, und es war mir, als hätten meine Worte eine Tür zu seinem Inneren geöffnet, von der ich vorher nicht gewusst hatte, dass sie existierte. In seinem Blick lag so viel Sanftmut, so viel Stärke und Kraft, doch die Traurigkeit, von der ich gesprochen hatte, hatte in diesem Moment die Oberhand gewonnen und schwächte das grüne Leuchten, das mich so sehr faszinierte. Ich nahm eine dicke Strähne seines langen, glatten Haares und ließ es langsam durch meine Finger gleiten. Keine Seide der Welt hätte geschmeidiger sein können. In diesem Moment hätte ich daraus am liebsten einen Pullover gestrickt und ihn nie wieder ausgezogen.

„So weich, so unglaublich weich …“, sagte ich, führte seine Haare an mein Gesicht und sog ihren ganz besonderen Duft ein. Doch zu meinem Erstaunen roch ich weder Wald noch Erde, wie ich angenommen hatte. Seine Haare trugen das Aroma der brennenden Sonne, und als ich meine Augen schloss, sah ich vor mir die unendliche Weite der roten Wüste, die am Horizont mit dem wolkenlosen Blau des Himmels verschmolz. Deutlich erkannte ich das Flirren der Luft, und ein leichter Windhauch blies unablässig neue Wellen in die sich ringsum befindlichen Dünen. So schön war dieser Ort, so warm und hell, dass ich mich umgehend dorthin gewünscht hätte. Ich spürte, wie sich Darons Hand an meinem Rücken leicht versteifte, während er mit der anderen zaghaft versuchte, zärtlich über meinen Kopf zu streicheln und mit meinen kurzen Wuschelhaaren zu spielen. Dies holte mich zurück aus meiner Traumstarre, sodass ich leicht verwirrt in sein Gesicht blickte, das sich so hell und markant vom Dunkel seiner Haare absetzte. Er lächelte, doch vermochte er damit die Schwermut nicht zu vertuschen.

„Du bist wirklich eine beeindruckende junge Dame, Aline“, sagte er und strich mir liebevoll eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. „Vor vierundzwanzig Stunden noch dachte ich, ich würde mich niemals in jemanden verlieben, als ich unter dem Baum stand, an dem ich schon so oft Ruhe und Frieden gefunden habe. Ich wollte einfach nur den Kopf frei bekommen, eine Runde abschalten, weg von allem. Und auf einmal standst du da und hast mich mit einer beinahe kindlichen Neugier beobachtet, ganz ohne Scheu, dass man dich dabei erwischen könnte. Nenn mich romantisch, nenn mich meinetwegen gar einen Träumer, aber in dieser Sekunde wusste ich, diese Frau ist etwas ganz Besonderes. Diese Frau ist es wert, sie näher kennenzulernen. Und ich hatte recht. Auch ich habe das Gefühl, als würde ich dich schon ewig kennen. Dich, dein Herz und … deine Seele.“

Ich wusste nicht, wieso, aber mir war, als hätte Daron die beiden letzten Worte mit einer nahezu übermächtigen Intensität ausgesprochen, als würden sie wie ein Echo in meiner Wohnung nachhallen. Irgendwo tief drinnen in mir erschauerte unwillkürlich etwas, und tatsächlich wurde ich sogleich von einem kurzen Schüttelfrost befallen. Die Härchen stellten sich mir am ganzen Körper auf, und mein Herz begann plötzlich drei Gänge nach oben zu schalten. Auf einmal war mir unwahrscheinlich kalt, als hätte jemand die Heizung schon vor Stunden ausgestellt, und ich widerstand nur schwer dem Drang, in die Luft zu hauchen, um zu sehen, ob mein Atem schon kleine weiße Wolken bildete. Entweder bekam ich nun die Reaktion meines Körpers auf den Raubbau der letzten vierundzwanzig Stunden serviert, oder hier war gerade etwas ganz und gar nicht in Ordnung. In Sekundenschnelle wog ich meine Möglichkeiten ab. Ich konnte jetzt entweder so tun, als sei nichts gewesen, und diese merkwürdige Situation auf meinen übernächtigten Körper schieben, oder ich konnte meinem Instinkt vertrauen, der gerade alle Alarmglöckchen angestellt hatte und mir signalisierte, dass hier etwas nicht stimmte. Ich entschied mich für volles Risiko. Für einen Abend hatte ich schon so viele Fragen gestellt, da kam es auf eine mehr oder weniger nicht an. Und schließlich hatte Daron mir versprochen, wahrheitsgemäß zu antworten. Hatte er doch, oder? „Was war das gerade?“, fragte ich ihn mit erstaunlich ruhiger Stimme und lobte mich insgeheim selbst für meine vermeintliche Souveränität.

„Was meinst du?“, erwiderte er und blinzelte kurz. Er hatte offensichtlich nichts bemerkt. Wirklich nicht? Ich lehnte mich ein wenig zurück und schaute ihm direkt in die Augen. Die Schwere in ihnen war beinahe verschwunden, und Zuneigung erwärmte sie mit neuem Glanz. „Ich dachte für einen Moment, es wäre hier kälter geworden“, entgegnete ich verwirrt und zeigte ihm zur Bestätigung die Gänsehaut auf meinen Armen. „Aber vielleicht waren die letzten Stunden auch einfach ein wenig zu anstrengend für mich und fordern nun ihren Tribut.“ Das stimmte zwar nur zur Hälfte, doch ich entschied mich, es dabei zu belassen. Ich taxierte Daron mit einem Blick, der ihm deutlich signalisierte, dass ich das selbst so nicht ganz glaubte. Ich wollte einfach wissen, wie er reagierte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, und seine Augen verrieten mir nicht im Geringsten, was er dachte. Verdammt, wenn er wusste, was hier los war, dann war er wirklich gut darin, das zu verbergen. Doch nach wie vor galt: Im Zweifel für den Angeklagten, und somit konnte ich schlecht Steine werfen, wenn mir die Beweise fehlten. Beweise wofür? Dass es in meiner Wohnung kurz kalt reingezogen hatte? Oh, Aline, du solltest wirklich bald ins Bett gehen. Wenn da nur nicht dieser unglaublich verführerische Mann auf meiner Couch gesessen hätte, und … hatte ich vor wenigen Minuten nicht etwas gehört, was mir gerade eben erst so wirklich in mein Großhirn sickerte? Leicht irritiert blickte ich ihn an und fragte: „Moment mal. Habe ich das vorhin richtig verstanden? Daron, hast du gesagt, du hättest dich in mich verliebt?“

Sein Lächeln breitete sich immer weiter aus und verwandelte sich in ein verlegenes Grinsen. Ja, ich glaube sogar, er wurde leicht rot um die Wangen, und, wie um meine These zu untermalen, strich er sich erneut mit einer nervösen Geste die Haare aus dem Gesicht.

„Nein, das habe ich nicht gesagt.“

„Doch, hast du!“, patzte ich vorschnell zurück. Verdammt.

Er grinste nur noch breiter.

„Nein, Aline, ich sagte: Ich dachte, mich nie zu verlieben, und auf einmal warst du da.“

Da war es wieder, das Glitzern seiner betörenden Smaragde, und er musste sich sichtlich Mühe geben, nicht die Contenance zu verlieren und laut loszulachen. „Aber das ist doch im Grunde genau das Gleiche!“, protestierte ich leicht empört. Ich hatte das Gefühl, Daron wollte mich ärgern, und das gefiel mir so gar nicht. So von wegen Kontrolle, Sie erinnern sich?

„Im Grunde … ja … hast du recht, es ist das Gleiche.“

„Also hast du dich in mich verliebt?“ So langsam ging mir das kleine Katz-und-Maus-Spiel auf die Nerven, besonders weil es um so brisante Informationen ging, die das weitere Schicksal der gesamten Menschheit betrafen. Nun gut, nicht wirklich der gesamten Menschheit. Eigentlich nur meins. Aber wer wird jetzt schon so kleinlich sein und mit Nachzählen anfangen?

Kurz sah ich Daron noch gegen seinen inneren Drang ankämpfen, doch in der nächsten Sekunde musste er sich geschlagen geben, und sein wunderbares, maskulines Lachen platzte aus ihm heraus. Er lachte und lachte, während ich einfach nur vor ihm saß wie Klein-Doofie mit Plüschohren und nicht wusste, ob ich mich jetzt freuen sollte oder nicht. Was hatte er denn jetzt eigentlich gesagt? Doch bevor ich fragen konnte, schloss Daron mich erneut fest in seine Arme und gab mir einen dicken Kuss.

„Du hättest mal dein Gesicht gerade sehen sollen! Dieser Ausdruck – einfach klasse. Den hätte ich gerne gerahmt für die Ewigkeit“, schmunzelte er mich an. Er setzte zu einem neuen Kuss an, doch diesmal sollte er mir nicht so leicht davonkommen. Schnell schaffte ich es, ihm meinen Zeigefinger auf seine Lippen zu legen, bevor sie die meinen berühren konnten.

„Stopp. Nenn mich kleinkariert, nenn mich pedantisch, aber ich hätte das jetzt gerne noch mal ausführlich und zum Mitschreiben, wenn es dir nichts ausmacht.“ Noch einmal holte ich tief Luft, setzte alles auf eine Karte und stellte die Frage, auf die es nur zwei Antworten gab, eine gute und eine weniger gute. Ich hoffte, es würde die gute sein.

„Daron, hast du dich in mich verliebt?“

Er gab mir einen leichten Kuss auf meinen Zeigefinger.

„Ja, Aline. Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell passieren könnte. Aber … Ja, ich habe mich in dich verliebt. Hoffnungslos mit Haut und Haaren und all meinen Sinnen.“

Und ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, küsste er mich erneut mit einer Leidenschaft und Hingabe, dass mir beinahe schwindelig wurde. Insgeheim war ich mir aber nicht so sicher, dass nur der Kuss dafür verantwortlich war.

Er hatte gesagt, dass er sich in mich verliebt hatte. In mich! Die kleine, zynische Singlefrau mit dem kurzen roten Wuschelkopf und der vorlauten Klappe, die gedacht hatte, kein Mann der Welt würde sich je für sie interessieren. Meine Gedanken begannen, in meinem Kopf Karussell zu fahren, und so entschloss ich mich entgegen all meiner Gewohnheit, mein Gehirn auszuschalten und mich einfach nur treiben zu lassen auf dieser Gefühlswelle, von der ich dachte, dass sie mich nie wieder erfassen würde.

Und ganz tief in mir drin, an einem längst verloren geglaubten Ort, musste ich zugeben, dass ich selber mich bereits in dem Moment, als Daron in der Tür stand, genauso hoffnungslos in ihn verliebt hatte.

Die Linie der Ewigen

Подняться наверх