Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 17

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Ohne an die Gegensprechanlage zu gehen, drückte ich auf den Schalter für die Hauseingangstür. Ich wusste ja sowieso, wer da im Anmarsch war. Noch ein schneller Selbsttest, Achsel links und Achsel rechts, kurz geschnüffelt – super, kein Geruch – na, dann konnte ja nichts mehr schief gehen.

Oder doch? Allzu viel Zeit, mir irgendwelche anderen Horrorszenarien auszumalen, blieb mir allerdings nicht mehr, denn kurze Zeit darauf klopfte es schon an der Tür. Einmal tief Luft geholt, Schultern zurück, Bauch rein, Brust raus, die Spiele konnten beginnen. Nervös drehte ich den Schlüssel, den ich immer von innen stecken ließ, unsicher, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich ihm die Hand geben? Oder ein Küsschen auf die Wange? Himmel, bitte steh mir bei.

Ich schnaufte noch mal schnell durch und öffnete die Tür. Da stand er.

Daron.

Mir war, als bliebe mir die Luft weg. Wahrhaft eine Erscheinung, ein Mann, der mit jeder Pore Testosteron ausströmte. Und er stand vor meiner Tür! Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, wie groß er tatsächlich war. Seine Einsneunzig füllten den Türrahmen zur Gänze aus, seine breiten Schultern und die schlanke Taille ließen mir beinahe das Herz in den Hello-Kitty -Slip rutschen. In Sekundenschnelle hatte ich ihn von oben bis unten gemustert, eine Kunst, die alle Frauen der Welt beherrschen. Sein rabenschwarzes Haar fiel ihm lässig über die Schultern bis auf etwa Ellenbogenhöhe. Auch deren Länge war mir wie neu. Verdammt, wie dunkel war es im Park eigentlich gewesen? Er schenkte mir ein charmantes Lächeln und holte eine Flasche Rotwein hervor, die er mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte.

„Für dich. Wie versprochen. Rotwein. Durch die Vordertür.“

Seine Stimme glich dem Schnurren eines Katers, der beabsichtigte, in Kürze an seiner Milch zu schlecken, und sorgte damit für jede Menge Gänsehaut auf meinem Rücken. Na, das ging ja gut los.

„Danke“, stammelte ich mühsam, total vereinnahmt von seiner imposanten Statur und diesem unglaublich funkelnden Grün seiner Katzenaugen. „Bitte, komm doch herein.“

„Würde ich. Sehr gerne sogar. Dafür müsstest du mich nur hereinlassen.“

Wie? O mein Gott.

„Ja … natürlich. Entschuldige bitte“, versuchte ich meine Unsicherheit mit einem nervösen Lachen zu kaschieren, als ich bemerkte, dass ich die ganze Zeit über wie ein hypnotisiertes Kaninchen den Eingang blockiert hatte. Aline, wenn du dich jetzt nicht am Riemen reißt, kannst du auch gleich vom Balkon springen, zog ich mir gedanklich die Peitsche über. Das half. Ein bisschen zumindest. Ich nahm ihm die Flasche ab und trat zur Seite. Als er an mir vorbei in meine Wohnung ging, vernahm ich erneut einen Hauch seines Geruchs. Er duftete nach Wald, nach Tannennadeln und frischem Regen, nach Moosen und der Süße von Tau am frühen Morgen. Meine Knie begannen bereits, sich in Wackelpudding zu verwandeln. Nicht jetzt, fluchte ich gedanklich, noch nicht!

Daron drehte sich zu mir um. Sein Ledermantel, den er offenbar gegen die kurze Jacke getauscht hatte, raschelte dabei wie der Wind in jungen Blättern. Ich hatte kaum Zeit, zu denken, da berührte er mit seiner linken Hand meine Wange, zog mich an sich und küsste mich so innig, dass ich dachte, mein Herz bliebe stehen. Seine Lippen waren weich wie das Fell eines jungen Kätzchens und drückten sich sehnsüchtig gegen die meinen, die sich nur allzu willig öffneten, um ihn willkommen zu heißen. Sterne tanzten vor meinem inneren Auge, und die Welt versank in einer Innigkeit, von der ich dachte, sie gestern nur geträumt zu haben. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste Daron langsam seinen Mund von meinem.

„Hallo, Kleines“ hauchte er mir entgegen, und als ich meine Augen öffnete, blickten sie direkt in die seinen. So grün wie das Meer an einem stürmischen Tag, so frisch wie das Gras nach einem kurzen Schauer. Und ehe ich mich versah, löste Daron seinen rechten Arm vom Rücken und hielt mir eine Rose entgegen. Eine weiße Rose, an deren Rändern sich die Farbe Pink wie zufällig verteilte. Also, das war mal was anderes. Sämtliche Männer, die ich kannte, schenkten – wenn überhaupt – nur rote Roten. Eine weiße hatte ich noch nie bekommen.

„Oh … danke. Die ist ja wunderschön“, bedankte ich mich artig, wenn auch recht zittrig, was mich gleich darauf ärgerte. Ich wollte doch souverän wirken, und was war? Gott sei Dank brachte mich dieser Mangel an Selbstbeherrschung wieder ein klein wenig dem Boden näher und ließ die Achterbahn in meinem Bauch anhalten.

Während Daron die Tür schloss, stöckelte ich in meinen Pumps mehr wackelig als gekonnt gen Küche, den Wein rechts, die Rose links. Ich hatte leider keine passende Vase, doch eine leere alte Flasche, die als Zierde auf meinem kleinen Tresen stand, wurde kurzerhand einfach zweckentfremdet. Ich konnte nicht widerstehen und sog vorsichtig den Duft der Blume ein. Zart und lieblich offenbarte sie mir ihr Bouquet, während ihre weichen, gewellten Blütenblätter meine Nasenspitze kitzelten. Ich erschrak, als Daron von hinten seine Hände auf meine Hüften legte und mir leise ins Ohr flüsterte: „Die Sorte heißt Abigail. Ich wusste, sie würde dir gefallen.“

Seine Nähe brachte mich beinahe um den Verstand, und das war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte. Ich wollte nicht, dass meine mühsam zurückgewonnene Selbstbeherrschung gleich wieder den Bach runter ging.

„Ja, sie gefällt mir sehr“, räusperte ich mich, drehte mich um und hielt ihm den Wein entgegen. „Bist du bitte so gut und öffnest die Flasche, während ich uns eine Kleinigkeit zu Naschen herrichte? Der Öffner ist in der Schublade direkt hinter dir.“ Dazu ein nettes Lächeln und – voilà! – schon konnte ich damit ein wenig Abstand zwischen Daron und mich bringen. Gut so, lobte ich mich insgeheim – das Ganze musste ja nicht sofort in einer moralischen Vollkatastrophe münden. Darons Grinsen war meiner Meinung nach ein wenig zu breit, als er sich erst seines Mantels entledigte und ihn dann über eine Stuhllehne legte. Als er sich umdrehte, erlaubte ich mir einen kurzen Blick auf sein imposantes Kreuz, das gleich einem V in seiner knackig sitzenden schwarzen Jeans endete und von einem glänzend schwarzen Seidenhemd verhüllt wurde. Gekonnt entkorkte er die Flasche und schenkte uns zwei Gläser ein, die ich bereitgestellt hatte. Noch schnell die Chips und Knabberstangen dekorativ in eine Schale gefüllt, und fertig war die Angelegenheit. Meine Mutter hätte sich bei diesem Anblick mit Grausen gewunden. Kind, hätte sie vorwurfsvoll gemahnt, wenn ein Mann zu Besuch kommt, muss etwas Warmes auf dem Tisch stehen, bei Männern geht Liebe durch den Magen. Ja, sicher, wenn ich wusste, wer der Mann war und welche Rolle er in meinem Leben zu spielen gedachte. Bei Daron, so verführerisch er wirkte, gab es mir einfach noch zu viele Ungereimtheiten, zu viele offene Fragen, als dass ich ihm mit einem raffinierten Coq au vin ein falsches Signal hätte senden wollen. Nicht, dass ich nicht schon genug davon geschickt hätte. Aber ich brauchte es ja auch nicht zu übertreiben. Ich nahm die Schüsseln mit den Kalorienbomben und stakste hinüber ins Wohnzimmer zu meinem Sofa, wo ich mir erlaubte, das kleine Teelicht auf dem Couchtisch anzuzünden. Ein bisschen Atmosphäre war erlaubt, nicht zu viel und nicht zu wenig. Daron folgte meinem Beispiel, setzte sich neben mich auf die Couch und reichte mir ein Glas. Sein linkes Bein hatte er angewinkelt, sodass er mir direkt ins Gesicht blicken konnte.

„Auf einen schönen Abend“, zwinkerte er mir zu und stieß mit mir an. Vorsichtig nippte ich an meinem Glas; ich wollte mit ja nicht gleich die Promille auf nüchternen Magen hinunterstürzen. Gegessen hatte ich den ganzen Tag natürlich wieder nichts. Wenn das so weiterging, würde sich jede sportliche Ambition in Sachen Bikinifigur demnächst erübrigen. Wenigstens etwas, dachte ich ironisch.

Der Wein schmeckte leicht und fruchtig, als enthielte er keinen Alkohol, gekrönt von einer blumigen Note im Abgang. Gefährlich, mahnte ich mich selbst, während ich in Darons Augen blickte. Sowohl der Wein als auch der Mann.

„Sehr gut“, war das Einzige, was ich in dem Moment an sinnvoller Konversation zustande brachte.

„Ein Jacques Selot Cabernet Sauvignon von 1996, ein wirklich ausgezeichneter Jahrgang. Es freut mich, dass er dir schmeckt.“

Wow, ein vierzehn Jahre alter Wein, wunderte ich mich. Der Mann hat Stil. Und noch während ich überlegte, was ich unbeholfener Datingfrischling als Nächstes sagen sollte, ergriff Daron das Wort: „Aline, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich habe mich nicht gerade wie ein Gentleman benommen, weder gestern noch gerade eben. Ich habe dich bedrängt, ohne darauf zu achten, dass ich damit vielleicht deine Grenzen überschreite. Gestern hattest du mich um Antworten gebeten, und das war dein gutes Recht. Soweit möglich, werde ich dir sagen, was du wissen möchtest, doch es gibt einiges, das ich dir nicht erzählen kann. Nicht jetzt. Das bitte ich dich als Einziges zu akzeptieren, und ich verspreche dir, dass du, wenn die Zeit dafür reif ist – sollte sie es jemals werden –, all das erfahren wirst, was du wissen möchtest.“

Seine Smaragdaugen schenkten mir einen dieser intensiven Blicke, die mir durch Mark und Bein gingen, dazu diese Ausdrucksweise, so gebildet und bedacht. Mein Interesse war aufs Neue geweckt.

„Also gut, ich nehme dich beim Wort“, erwiderte ich und beobachtete mit ein wenig Genugtuung, wie Daron leicht nervös das Weinglas in seinen großen, starken Händen zu drehen begann. „Vorgestern, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben, was hast du da im strömenden Regen unter dem Baum im Park gemacht? Du hast mich angesehen und gelacht, und auf einmal warst du weg. Dann höre ich in der Nacht auf einmal komische Geräusche vom Balkon und finde neben kleinen Steinchen einen Zweig mit einer Strähne deines Haares. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass es dein Haar war? Was sollte das alles? Ich meine, wie du soeben gesehen hast, ist es gar nicht so schwer, einfach zu klingeln und mit einem weitaus weniger kryptischen Geschenk durch eine Tür zu kommen.“

Langsam strich sich Daron mit einer Hand sein Haar aus dem Gesicht und klemmte es sich hinter sein rechtes Ohr, so wie ich es bereits vergangene Nacht bei ihm beobachtet hatte. „Es ist nicht so, als hätte ich nicht gewusst, dass du mir diese Fragen stellen würdest“, entgegnete er mir in einem, wie mir schien, sehr behutsamen Tonfall, genau darauf achtend, welche Worte er wählte. „Es ist nur nicht einfach für mich, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der mir etwas bedeutet.“

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Hatte ich da gerade richtig gehört? Ich bedeutete ihm etwas? Mein Herz begann seine Pulsfrequenz schlagartig zu erhöhen, wodurch ich meine liebe Not hatte, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Doch meine Bemühungen waren allem Anschein nach erfolgreich, denn Daron fuhr mit seinen Erklärungen ungehindert fort.

„Ich sagte dir ja schon, ich habe keine Übung im … Daten. Bitte sieh es mir nach, wenn ich mich stellenweise etwas unbeholfen anstelle. Du willst Antworten und du sollst sie bekommen.“ Er atmete tief ein.

„An dem Abend, als ich dich an der Haltestelle stehen sah, da genoss ich einfach nur die Stille des Augenblicks. Lauschte dem nächtlichen Regen, wie er auf das Blätterdach trommelte und sog den Duft des nassen Grases ein. Ich liebe diesen Platz. Er gibt mir Ruhe und hilft mir, mich auf das Wesentliche zu besinnen. Ruhe ist für mich ein sehr kostbares Gut, Aline, ich habe davon nicht gerade sehr viel.“

Das warf für mich jetzt doch mehr Fragen auf, als es mir Antworten schenkte. Daron musste mir das an der Nasenspitze angesehen habe, denn er fuhr fort: „Mein Alltag ist geprägt von schwierigen Schicksalen und Entscheidungen, wie bei vielen … Managern. Bevor du fragst – ich kann dir leider nicht sagen, was ich tue. Das ist einer dieser ‚Noch nicht‘-Punkte, du erinnerst dich?“

Ich nickte, weil ich ihn nicht unterbrechen wollte.

„Nur so viel kann ich dir anvertrauen – ich arbeite in einer Art Familienunternehmen, und die können einen rund um die Uhr beschäftigen.“

„Aber du tust doch nichts Illegales, oder?“, schoss es aus meinem Mund, und schon im nächsten Moment biss ich mir auf die Zunge. Konnte ich nicht erst nachdenken und dann Fragen stellen? Sollte er etwas Illegales tun, würde er es mir zum einen ganz sicher nicht verraten und zum anderen nun überlegen, wie er mich im Fall der Fälle mit dem geringsten Aufwand würde beseitigen können. Ich blöde Kuh! Doch statt über mich herzufallen und mein Schicksal zu besiegeln, stieß Daron sein wunderbar maskulines Lachen aus, so tief und ehrlich, dass ich wusste: Egal, was er antworten würde, es würde der Wahrheit entsprechen. Nennen Sie es ruhig leichtgläubig, ich nenne es Intuition oder Bauchgefühl. Das hatte mich noch nie betrogen, warum sollte es dieses Mal?

„Nein, Aline, ich mache ganz bestimmt nichts Illegales, darauf schwöre ich dir jeden Eid“, versuchte er mühevoll neben seinem Lachen hervorzubringen. „Du bist herrlich. Wirklich. Ich habe selten so viel gelacht wie in den letzten vierundzwanzig Stunden. Weißt du, mein Job ist nicht gerade einfach und stellenweise sehr belastend. Es tut einfach mal gut, aus all dem aufzutauchen und ein ganz normales Gespräch zu führen.“

Er wischte sich bei diesen Worten doch tatsächlich eine kleine Träne aus seinem linken Auge, so sehr hatte ich ihn amüsiert. Wäre ich nicht so verwirrt gewesen – ich hätte gerne mitgelacht.

„Okay“, sagte ich, „ein anstrengender Job im Familienkreis, nichts Illegales, und zufälligerweise ist dein Time-Out-Place gleich mein Time-Out-Place, so etwas soll es ja geben. Mir war, als hätte ich dich an dem Tag lachen gehört. Als ich das hörte, ganz ehrlich, Daron, da lief mir eine Gänsehaut nach der anderen den Rücken runter. Oder bin ich mittlerweile paranoid und habe mir das nur eingebildet?“

Ups. Damit hatte ich ein klein wenig mehr preisgegeben, als mir lieb war. Doch es war schon zu spät, den Fehler zu korrigieren. Verdammt, ich musste mehr auf meine Worte achten. „Nein, hast du nicht“, antwortete er und nahm einen weiteren kleinen Schluck aus seinem Glas.

„Ich sah dich und dachte mir: Was für eine interessante junge Dame, die so ohne Scheu und voller Neugier einen Fremden anstarrt und nicht mal zurückzuckt, wenn man sie dabei erwischt.“ Ein Grinsen umspielte bei diesen Worten erneut seine Lippen, und in seinen Augen tanzte ein Glitzern, als bereitete es ihm riesigen Spaß, mich mit dieser Beobachtung zu konfrontieren. Wahrscheinlich tat es das auch. Was sollte ich da schwindeln? Er hatte ja recht, und so, wie ich die Situation einschätzte, wusste er das auch. Leugnen zwecklos. Jetzt hieß es für mich Farbe bekennen.

„Stimmt, ich bin von Natur aus sehr neugierig, und wenn ich etwas oder jemanden Interessantes sehe, dann schaue ich mir es, ihn oder sie einfach gern genauer an. Werde ich dabei erwischt, dann ist das zwar leicht peinlich, aber ich stehe zu meiner Neugier. Peinlicher fände ich es, einfach schnell wegzuschauen. Das ist so verlogen und hat meiner Meinung nach überhaupt keinen Stil.“

„Ein starker Charakter äußert sich durch starke Verhaltensweisen“, sinnierte Daron vor sich hin. „So etwas ist in dieser Zeit nicht oft zu finden. Ich fand das beeindruckend. So beeindruckend, dass ich dir gefolgt bin. Ich weiß, das war nicht die feine englische Art, wirklich nicht. Aber ich konnte es nicht riskieren, dich aus den Augen zu verlieren. Ich sah, wo du ausgestiegen bist, das Haus, in das du gingst und das Licht, das du beim Betreten der Wohnung angeschaltet hast. Deinen Namen herauszufinden, war somit ein Kinderspiel.“

Ich kombinierte in Gedanken schnell das Gesagte, und es stimmte: Anhand der Klingelanordnung neben der Haustür und seiner Beobachtung war tatsächlich leicht auszumachen, wer in welchem Apartment wohnte. Ich würde bei der Hausverwaltung demnächst einen Antrag wegen einer neuen Beschilderung einreichen müssen. Sicher ist sicher.

„Das erklärt aber nicht, warum du nachts auf meinem Balkon herumturnst, um mir den Zweig zu hinterlassen, dann aber verschwindest und lieber mit kleinen Steinchen schmeißt. Und überhaupt – wie bist du nur in den vierten Stock gelangt? Bist du etwa Spiderman? Ich habe Todesängste ausgestanden, weil ich dachte, da steht ein irrer Psychopath auf meinem Balkon, der bereits das Messer wetzt. Echt, Daron, so etwas macht man einfach nicht mit alleinstehenden Frauen, besonders nicht, wenn sie, wie du sagtest, einem etwas bedeuten. Dieser Vorfall hat mich locker zwei Jahre meines Lebens gekostet!“

Gott sei Dank war noch rechtzeitig ein wenig Wut von der Erinnerung in meinen Bauch zurückgekehrt und veranlasste mich, die richtigen Fragen zu stellen.

Sein Lächeln erstarb so schnell, wie es gekommen war, und machte einer zutiefst bedrückten und nachdenklichen Miene Platz. Mir stockte beinahe der Atem. Sah Daron in einem Moment noch charmant und gewissermaßen zauberhaft aus, so blickte ich nur Sekunden später auf eine ganz andere Facette seines Wesens. Schwermut spiegelte sich in seinen Augen, doch vermied er es, mich anzusehen, als er sprach. Unentschlossen drehte er erneut das Weinglas in seinen Händen, dessen Inhalt ihm auf einmal höchst interessant zu sein schien.

„Absolut, mea culpa. Aline, es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht erschrecken und habe dich unwissentlich doch in eine für dich untragbare Situation gebracht. Du hast recht, ich hätte einfach einen Tag warten und klingeln sollen, anstatt den geheimnisvollen Boten zu mimen und dann, wie du sagtest, mit Steinchen zu schmeißen. Das war dumm und unüberlegt. Ich dachte, und das klingt nun vor diesem Hintergrund fast wie Hohn, es würde dich erschrecken, wenn du mich nachts vor deiner Wohnung stehen sehen würdest. Dass es keine Rolle spielt, ob so oder so, das habe ich wirklich nicht bedacht. Bitte verzeih mir. Ich verspreche dir, dass ich dir nie wieder so einen Schrecken einjagen werde.“

Bei diesen letzten Worten versuchte er ein unsicheres Lächeln und sah mich nervös an. Ich konnte nicht anders, mein Herz schmolz bei diesem Hundeblick dahin wie Schnee in der Frühlingssonne, und meine neu aufgekeimten Fragen verstummten im Angesicht seines schlechten Gewissens. Ehe ich nachdenken konnte, legte ich meine Hand auf seine, und das Rotweinglas hörte auf, sich zu drehen.

„Ich verzeihe dir, Daron. Aber ich nehme dich beim Wort. Jage mir nie wieder so einen Schrecken ein. Für eine Frau meines Alters sind solche nächtlichen Romeo-Aktionen nicht besonders förderlich, vor allem nicht, was meinen Schlaf betrifft. Du siehst ja, was passiert: Ich steige aufs Fahrrad und fahre morgens um halb drei in einen dunklen Park, um dort entgegen allen meinen Prinzipien Gespräche mit einem mir völlig unbekannten Mann zu führen.“

Diese Bemerkung ließ ihn schmunzeln, und Erleichterung verdrängte die Schwermut in seinen Augen.

„Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass du kommen würdest.“

Behutsam nahm er mir mein Glas aus der Hand und stellte unsere zwei Kelche auf den Couchtisch. Dann nahm er meine Hände in seine und drückte ihnen einen dicken Kuss auf. Bei der Berührung seiner Lippen auf meiner bloßen Haut erschauerte ich. Wie konnte ich nur so angezogen werden von einem Mann, der derart mysteriös war und definitiv weit über meiner Liga spielte, der körperlich so imposant und innerlich zeitgleich so zerbrechlich wirkte, der mit mehr Fragezeichen in mein Leben getreten war, als er bisher hatte beseitigen können? Und doch war es so. Jede seiner Berührungen, jeder seiner Blicke ließ die Härchen auf meinen Armen Rumba tanzen und die Kolibris in meinem Magen flattern, ganz knapp davor, dass die Wildkatze erwachte und auf die Jagd ging. Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Gibst du mir eine zweite Chance?“

Etwas verblüfft von dieser Frage wusste ich nicht, was ich antworten sollte, und bevor ich mich versah, hatte mein Mundwerk wieder mal die Kontrolle übernommen, ehe ihm mein Hirn Einhalt gebieten konnte.

„Ja, natürlich.“

Sehr schön, Aline, gib dich nur als leichte Beute aus, mach es ihm richtig einfach, wirst schon sehen, was du davon hast. Wie sagte Mama immer? Willst was gelten, mach dich selten. Hatte mal wieder prima geklappt! Gedanklich verpasste ich mir eine saftige Abmahnung. Doch bevor ich mich weiter in meine innere Schimpftirade reinsteigern konnte, nahm Daron mein Gesicht in beide Hände und sagte: „Hallo, Aline, ich bin Daron. Schön, dich kennenzulernen.“

Anschließend gab er mir einen Kuss, so leidenschaftlich und schwermütig, so innig und traurig, dass all meine Vorsätze und Bedenken, die ich soeben noch in Gedanken durchgegangen war, von einer Welle aus Verwirrung, Angst und Freude weggespült wurden. Ich ergab mich seinem Kuss, ergab mich diesen Lippen aus Samt und Seide, und schmeckte nichts weiter als Sehnsucht und Verlangen. Und tief, ganz tief in mir drin spürte ich, wie selbst der letzte Rest an Vorsicht in mir schwand und ein für mich schon lange verloren geglaubtes Gefühl zu neuem Leben erwachte.

Konnte es etwa sein, dass ich selber gerade dabei war, mich in diesen bildschönen Mann, der die Stärke eines Bären und die Unsicherheit eines Rehs in sich vereinte, zu verlieben?

Die Linie der Ewigen

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