Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 19
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Wir verbrachten den ganzen Abend und die halbe Nacht küssenderweise auf dem Sofa. Einmal unterbrachen wir, um Luft zu holen und einen weiteren Schluck des wirklich ausgezeichneten Rotweins zu genießen. Einen guten Wein sollte man schließlich nicht verkommen lassen, hatte mein Vater früher immer gesagt. Ach, Papa …
Die Erinnerung an ihn holte mich ein wie ein Bumerang, den ich vor langer Zeit wegzuwerfen versucht hatte und der nun durch den Anblick der rubinroten Flüssigkeit in meinem Glas und deren lieblich leichten Geschmack schlagartig zu mir zurückkehrte. Ich reagierte zu spät und schaffte es nicht rechtzeitig, meine emotionale Schutzbarriere wieder zu schließen, die ich für Daron ein großes Stück geöffnet hatte. Der Treffer schmerzte umso mehr.
Mamas Anruf vor vier Jahren auf der Arbeit knallte mir mit voller Wucht zurück in mein Bewusstsein. Ich dachte daran, wie sie mich hysterisch am Telefon angeschrien hatte, ich solle sofort ins Krankenhaus kommen, Papa hätte einen Unfall mit dem Bus gehabt. Wie ich in diesem Moment nicht mehr klar hatte denken können, wie mein Körper mir den Gehorsam verweigert hatte, sodass mir der Hörer aus der Hand geglitten war. Ich erinnerte mich an meine Kollegin Jenny, die erst den Hörer und dann mich aufgefangen hatte, um mich anschließend ins Krankenhaus Sankt Hildegard zu fahren. Ich selber hatte mich wie in einer Schockstarre befunden, mein Kopf war leer und meine Gefühle lagen brach. Heute weiß ich, dass das eine Schutzreaktion meines Gehirns gewesen war, damit mich das Gewicht der Realität nicht zerquetschte wie eine kleine Fliege. Ich hatte damals nichts davon mitbekommen, wie Jenny mit meiner Mama weiter telefoniert und sich die Adresse notiert hatte, oder wie sie zu Florian gegangen war, um ihn über die schlimmen Nachrichten und unseren Aufbruch zu informieren. Den gesamten Weg in die Klinik hatte ich wie ferngesteuert erlebt, und hätte man mich damals nach meinem Namen gefragt, dann hätte ich ihn nicht nennen können. Das konnte ich später tatsächlich nicht, denn als wir ins Krankenhaus kamen, hatte uns eine Schwester um diese Auskunft gebeten. Ich wusste meinen Namen einfach nicht mehr und schaffte es nicht mal, einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen. Jenny war in diesem Moment mein rettender Engel und erledigte alles für uns. Sofort waren wir in den Warteraum drei geschickt worden, in dem bereits meine Mama und Betty saßen. Beide leichenblass, meine Mama vollkommen aufgelöst, während Betty ihr beruhigend einen Arm um die Schultern gelegt hatte und leise auf sie einredete. Betty hatte an diesem Tag meine Mama zum allwöchentlichen Weibertratsch besucht. Der schreckliche Anruf hatte sie beide ereilt, als sie sich gerade ein schönes Glas Rotwein gönnen wollten. Papa war ein Fan guten Weines gewesen, und auch wenn er sich von seinem kleinen Gehalt nie wirklich einen teuren Wein hatte leisten können, hatte er die ganze Familie mit seiner Begeisterung für den roten Saft angesteckt. Jeder Wein, egal wie billig, war stets standesgemäß dekantiert und genossen worden. Meine Ma hatte seit seinem Tod nie wieder einen Rotwein ansehen, geschweige denn trinken können. Der Weg durch den Supermarkt wurde für sie, wenn sie an den Weinregalen vorbei musste, zu einem wahren Spießrutenlauf. Bei mir war das anders. Bei jedem Schluck dachte ich immer irgendwie an meinen Vater und daran, wie gut ihm dieser Wein sicher geschmeckt hätte.
Jenny hatte mich damals im Warteraum abgeliefert und war danach wieder in die Firma zurückgekehrt, um meine Arbeit zu übernehmen. Bis jetzt war ich ihr unendlich dankbar, dass sie in dieser schlimmsten Stunde meines Lebens das Denken für mich übernommen und einfach nur gehandelt hatte. Ohne Wenn und Aber. Das würde ich ihr nie vergessen. So hatten wir drei Frauen nun dort zusammengekauert gesessen und gebangt und gehofft, während Papa auf dem OP-Tisch lag. Gebangt, dass der Bus, der ihn erfasst hatte, ihm nicht allzu schlimme Verletzungen beigebracht hatte, gehofft, dass wir Papa mit nur ein paar gebrochenen Knochen wiedersehen würden. Manchmal ist das Schicksal einfach grausam. Ein Busfahrer, der auf dem Fußweg zur Arbeit von einem Bus überfahren wird. Von einem Kollegen, der die Nacht vorher durchgesoffen hatte. Der später meiner Meinung nach viel zu milde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden war. Doch egal, welches Strafmaß der Richter auch verhängt hätte, es hätte meinen Vater nicht mehr zurückgebracht.
Als der Arzt aus dem OP kam, hatte ich sofort gewusst, dass Papa es nicht geschafft hatte. Ich war sehr fixiert auf Augen und konnte ausgesprochen gut in ihnen lesen. In den Augen des Arztes hatte ich nur Trauer und Mitleid gesehen, bereits in dem Moment, in dem er sich den Mundschutz abgenommen hatte. Meine Mutter hatte einen hysterischen Schreikrampf erlitten. Betty und ich hatten geweint, uns aber genug zusammenreißen können, um meine Mama aufzufangen. Als ich gefragt hatte, ob wir Papa noch ein letztes Mal sehen durften, hatte der Arzt den Kopf geschüttelt.
„Tun Sie sich das nicht an und behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. So bleibt er für immer in ihrem Herzen lebendig“, hatte er gesagt und zu Boden geblickt. Fünf Sekunden später hatte ich mich in die Topfpflanze auf dem Flur übergeben.
Eine Berührung ließ mich aus meiner Erinnerung hochschrecken. Ich sah auf und realisierte Daron, wie er eine Hand auf meine Schulter gelegt hatte.
„Einen Penny für deine Gedanken“, meinte er sanft und setzte einen teils mitfühlenden, teils neugierigen Sorgenblick auf.
„Keinen Penny“, erwiderte ich lächelnd und wusste, dass er all meine Gedanken umsonst bekommen konnte. „Ich dachte gerade an meinen Vater und daran, wie gern er Rotwein trank.“
„Was ist passiert?“, fragte Daron und strich sich abermals eine Strähne hinter sein rechtes Ohr.
„Ein Unfall. Er war Busfahrer und wurde von einem Bus überfahren.“
Da musste ich selbst kurz hysterisch loslachen, fing mich aber recht schnell wieder.
„Entschuldige bitte, das ist nicht lustig. Aber wenn ich es so sehe, dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass das Leben manchmal richtig gemein sein kann. Oder der Tod. Je nachdem, wie man es sieht.“
Daron sagte kein Wort. Er sah mich nur mit diesen unglaublich grünen Augen an, und erneut war mir, als würde sich ein Schatten über sie legen. Sein Arm legte sich ganz um meine Schulter und zog mich an seine Brust. Diese starke, durchtrainierte Brust, die mir in diesem Moment wie ein Schutzwall erschien. Ein Schutzwall gegen schmerzhafte Erinnerungen. „Es tut mir sehr, sehr leid, dass du das erleben musstest.“ Ich spürte einen Hauch von Traurigkeit in seiner Stimme und begriff, dass ihn meine Geschichte wirklich aufrichtig betroffen gemacht hatte.
„Das muss es nicht“, erwiderte ich an ihn gekuschelt, „du kannst doch nichts dafür.“
Bei diesen Worten versteifte er sich leicht. Erneut spürte ich einen kalten Hauch durch die Wohnung ziehen, der mich erzittern ließ.
„Verdammt“, fluchte ich und rieb mir die Arme, „gleich am Montag telefoniere ich mit der Hausverwaltung und lasse die Fensterisolierung überprüfen.“
„Ja … die Isolierung“, stammelte Daron, und da vernahm ich etwas in seiner Stimme, das vorher noch nicht da gewesen war.
Unsicherheit.
Und Angst.
Pure, nackte Angst.
Doch wovor? Ich löste mich aus seiner schützenden Umarmung und blickte ihm erneut ins Gesicht.
„Was ist los, Daron? Und sag mir nicht, da sei nichts. Ich sehe es in deinen Augen und merke, wie du dich versteifst. Irgendwas hast du.“ Diesmal war ich diejenige, die die Stirn in Falten legte, wenn auch nicht aus Sorge, sondern vielmehr aus Neugier und Unverständnis.
Nervös blickte Daron zur Seite und seufzte tief. Und während ich mich noch fragte, ob ich mit meiner Frage vielleicht verbotenes Terrain betreten hatte, antwortete er: „Es gibt so vieles, das ich dir erzählen möchte. Aber ich befürchte, dass es dich erschrecken könnte. Dass du dich dann von mir abwendest. Und dabei will ich dich nicht verlieren. Die Gefühle, die du in mir hervorrufst, habe ich so noch nie empfunden. Sie sind etwas ganz Besonderes für mich, Aline. Du bist etwas ganz Besonderes für mich.“
Ich legte meine Hand unter sein Kinn, drehte sein Gesicht zu mir – und erschrak. In seinem Blick lag so viel Verzweiflung, dass es meinem Herzen einen Stich gab.
„Daron, egal was es ist, ich werde es verkraften. Du wirst mich nicht verlieren. Das, was da zwischen uns ist, ist mir viel zu wichtig, als dass ich es missen wollen würde.“
„Das sagst du jetzt. Aber eines Tages, Aline, wenn du mich besser kennst, wirst du mich vielleicht verachten.“
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Seine Worte enthielten so viel Schmerz und seine Augen eine Furcht, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, welches dunkle Geheimnis dieser wunderbare Mann tagtäglich mit sich herumtragen musste. Warum sollte ich ihn jemals verachten? Allein dieser Gedanke schien mir wie aus einem bösen Traum. Ich wusste nur eines: Egal was es war, und sei es auch noch so schlimm, ich würde ihn nicht einfach stehen lassen und gehen. Ich würde um ihn kämpfen. Dazu war ich fest entschlossen.
Um seine Liebe und sein Vertrauen.
Um uns.
Selbst wenn er der Fürst der Finsternis persönlich gewesen wäre, war ich mir sicher, dass es nichts gab, was meine Gefühle für diesen Mann hätte erschüttern können.
„Ich könnte dich nie verachten“, flüsterte ich, fuhr mir meinen Händen durch sein langes, seidiges Haar und küsste ihn so innig, als könnte ich allein mit meinen Lippen all die dunklen Schatten vertreiben, die über seiner Seele lagen.