Читать книгу Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 15
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Der Tag auf der Arbeit war relativ unspektakulär und kurz. Sämtliche Kollegen fragten mich, ob ich krank sei, ich würde so übermüdet aussehen. Ach was. Mein Chef Florian, ein gemütlicher Vatertyp, Mitte Vierzig, verheiratet, zwei Kinder, ein Hund, bat mich sogar, nach Hause zu gehen und mich übers Wochenende gesund zu schlafen. Ich mochte Florian wahnsinnig gern. Er war einer der wenigen Abteilungsleiter, denen das Wohl seiner Mitarbeiter immer noch wichtiger war als knallhartes Karrierestreben. Was wiederum dafür sorgte, dass wir uns in seinem Team alle rundum wohl fühlten, gute Arbeit leisteten, selten krank waren und jeden Morgen gerne wieder ins Büro kamen. Heutzutage konnte man Arbeitsplätze mit solch traumhaften Voraussetzungen geradezu mit der Lupe suchen. Ein wenig Kopfschmerzen, entgegnete ich ihm, das würde schon wieder werden. Doch Florian ließ sich nicht umstimmen, und so handelten wir einen Kompromiss aus – ich würde noch meinen Schreibtisch abarbeiten und danach nach Hause gehen. Ein Chef, der seine Mitarbeiter von sich aus nach Hause schickte … Ich wusste schon, warum ich diesen Job trotz Stress so mochte. So riss ich mich also extrem zusammen und meine Augen umso mehr auf, als ich verschiedene Anrufe tätigte und falsche Buchungen der Außendienstler im System ausglich. Harry Steet rief ich als Letzten an, er sollte mein Abschluss für den heutigen Tag sein. Harry war Mitte dreißig und seit Jahren mobil für unsere Firma tätig. Ein Verkäufer mit Leib und Seele und fast jeden Tag mit seinem Firmen-BMW auf Deutschlands Straßen unterwegs. Er liebte die Freiheit; hätte man ihn in ein Büro gesetzt, er wäre auf der Stelle eingegangen wie eine Topfblume ohne Wasser und Licht. Irgendwo bewunderte ich ihn.
Harry war nicht einfach nur frei, er nutzte diesen Umstand auch in vollem Umfang aus. Und wenn er nur mal für sieben Tage nach Neuseeland flog, einfach weil ihm gerade danach war. Natürlich mochte ich meinen Job, doch ab und zu biss mich auch dieser hartnäckige Floh, mal allem zu entfliehen, meine Freiheit einzufordern und vielleicht was gänzlich Neues zu beginnen. Musste ja nicht gleich eine Muschelzucht auf Palau sein. Barkeeperin am Strand von Mexiko wäre für den Anfang ja auch nicht schlecht.
Kaum hatte ich Harrys Nummer gewählt, hob er auch schon ab und tönte in seiner bekannt lauten Stimme: „Guten Morgen Alinchen, wie geht es meinem Sonnenschein denn heute?“ Ich musste mir erst mal den Hörer vom Ohr halten, so stechend war mir der Kopfschmerz durch den Gehörgang in die linke Schläfe gefahren.
„Autsch … hallo Harry. Könntest du bitte ein wenig leiser sprechen? Ich hab heute ziemliche Kopfschmerzen.“
Doch anstatt meinem Wunsch zu entsprechen, vernahm ich am anderen Ende der Leitung nur schallendes Gelächter, das sich mit dem Rauschen der schlechten Verbindung zu einer hässlichen Sinfonie paarte. Harry war offenbar schon auf dem Weg zu einem weiteren Kunden.
„Was ist denn los, Sonnenschein, gestern etwas zu viel gefeiert?“
„Nein, Harry, ausnahmsweise nicht. Du weißt ja, sonst lasse ich nie eine Party sausen, aber gestern und heute plagen mich einfach nur simple Kopfschmerzen.“
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Harry wusste, dass ich mich lieber mit einem guten Buch auf die Couch verzog, anstatt in knappen Minis durch enge, verrauchte Bars zu hüpfen und – auf Neudeutsch – einer „Stehfickparty“ beizuwohnen. Hätte ich ihm erzählt, wo ich gestern Nacht tatsächlich gewesen war, er hätte mir das nie geglaubt. Mal ganz abgesehen davon, dass ihn das sowieso gar nichts anging. Man sollte Berufliches und Privates ja immer schön voneinander trennen.
„Na, dann wünsche ich dir mal gute Besserung. Hat der Chef dich schon gesehen?“
„Ja, ich werde gleich heimgehen, und du hast heute die Ehre, mein krönender Abschluss zu sein.“
„Ach, wärst du doch nur woanders auch so zuvorkommend.“
Harry war ein Schwerenöter. Ich hatte ihn bereits mehrere Male auf diversen Firmenveranstaltungen getroffen – ein sehr gut aussehender Mann, Typ Sonnyboy mit dem gewissen Etwas. Das Problem war nur: Er wusste das. Und hatte damit schon so manche Frau aus unserer Etage herumgekriegt. Nur mich nicht. Denn ich hatte ihn sofort durchschaut, als er mir bei unserem ersten Kennenlernen gleich zu eng auf die Pelle gerückt war und frech gefragt hatte, ob er mir erst einen ausgeben müsse oder ob wir gleich zur Sache kommen könnten. Darauf hatte ich ihn gelangweilt von oben bis unten gemustert und lapidar mit einem desinteressierten Lächeln entgegnet, er habe sich wohl in der Etage geirrt: Die Bingoparty der Senioren würde ein Stockwerk tiefer stattfinden. Er hatte daraufhin so sehr gelacht, dass ihm sein Bier aus der Nase geschossen war. Das wiederum hatte mich zum Lachen gebracht. Seitdem respektierte er mich, und ich kam prima mit seinen manchmal nicht ganz jugendfreien Sprüchen klar.
„Nur in deinen Träumen, Harry“, erwiderte ich lächelnd. „Verrate mir lieber, was für einen Bock du gestern wieder geschossen hast.“
Schnell erledigten wir das Geschäftliche, denn eines konnte man Harry nicht vorwerfen – Schlampigkeit. Sicher machte er wie jeder andere auch Fehler, hatte aber die Professionalität, sie zu beheben. Wenn man im Gegenzug mal etwas von ihm brauchte, konnte man sicher gehen, Harry würde sich im Handumdrehen drum kümmern. Nachdem wir die betreffende Lieferung Zigaretten aus dem falschen Kiosk aus- und in den richtigen eingebucht hatten, fragte mich Harry, ob ich die nächsten zwei Wochen arbeiten würde. Er würde in dieser Zeit mal in der Stadt sein und gern bei mir vorbeischauen. Er hatte sich eine neue Kamera bei seinem Stammhändler gekauft, einem kleinen Fotoladen in der Lehnartstraße. Dort war er schon seit Ewigkeiten Kunde, denn in seiner Freizeit war Harry nicht nur leidenschaftlicher Schürzen-, sondern auch Fotomotivjäger. Dann ging er selten ohne sein „Baby“ aus dem Haus. Was mit seiner alten Kamera war – keine Ahnung; ich wusste nur, dass die neue so viel kostete, wie ich nicht mal in einem Monat verdiente. Ein nicht gerade billiges Hobby.
„Kein Problem, ich bin hier und warte säähnsüüüschtiiiiisch auf diiiiisch“, imitierte ich nicht ganz gekonnt eine tschechische Kioskbesitzerin, die er einmal bei einer seiner Touren kennengelernt hatte. Das war seitdem unser privater Running Gag. Wieso diese Dame stets so sehnsüchtig auf Harry wartete, das hatte ich dann aber doch nicht wissen wollen.
„Prima, Babe, dann komm ich einfach irgendwann auf einen Kaffee in deinem Büro vorbei. Ich freu mich!“, sagte er und legte auf.
Herzlich war er, der Harry, dagegen konnte man nichts sagen. Ich ordnete noch meine Papiere für die kommende Woche und hoffte, die Putzfrau würde sie nicht wie vor drei Tagen aus Versehen mit ihrem Besen vom Tisch fegen. Es hatte mich eine geschlagene Stunde gekostet, die ganzen Akten wieder richtig zu sortieren. Schnell verabschiedete ich mich noch von der gesamten Mannschaft und machte mich mit dem Bus auf den Weg nach Hause. Ob Sie es glauben oder nicht, ich war sogar so müde, dass ich an der Haltestelle nicht einmal zu meiner Pappel blickte. Das, was sich gestern darunter befunden hatte, würde sich heute Abend sowieso auf meiner Couch niederlassen. Doch bevor die Kolibris bei dieser Erinnerung wieder anfangen konnten zu flattern, kam auch schon der Bus angefahren, und eine gestresste Mami rammte mir beim Aussteigen ihren Kinderwagen gegen das rechte Schienbein. Das hatte einige Sekunden ganz schön weh getan. Sie entschuldigte sich sofort für ihr Missgeschick, doch ich winkte ab. Es war ja nichts passiert. Im Grunde war ich ihr in diesem Moment für die Ablenkung sogar ein ganz klein wenig dankbar. Aber wirklich nur ein ganz klein wenig.