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Die Begrüßungsrede
ОглавлениеBevor wir zehn Tage lang schweigen werden, steht eine Begrüßungsrede auf dem Programm, in der es um die Regeln geht, zu denen man sich zu Beginn dieses Retreats verpflichtet. Sie wird von dem sympathischen jungen Mann gehalten. Und er hält sie ohne jedes Pathos und ohne Anspruch auf die Autorität eines Lehrers. Er und die beiden Männer neben ihm sind einfach Praktizierende, die nach ein, zwei, drei Retreats beschlossen haben, noch einmal in der Rolle von Kurshelfern mitzumachen. Auch sie werden also meditieren, natürlich, dafür sind alle hier, doch statt sich zwischen den Sitzungen auszuruhen, kümmern sie sich ehrenamtlich um die Küche, das Putzen und die verschiedenen Aufgaben drumherum, sprich, sie schmeißen den Laden. Dieses Tun nennt man Karma-Yoga, das Yoga der Tat oder des Dienens: eine selbstlose, wirksame Art, um die Wohltaten, die man selbst erfahren hat, anderen zukommen zu lassen. »Es wird euch vielleicht wundern«, sagt der sympathische junge Mann, »aber glaubt man den Statistiken – und dadurch, dass Vipassana schon vor zwanzig Jahren in Frankreich eingeführt wurde, blicken wir auf eine gewisse Strecke zurück –, kehrt ein Viertel von euch als Kurshelfer hierher zurück. Die kleine Rede, die ich euch gerade halte, werden also manche von euch in gar nicht so ferner Zukunft anderen halten.« Es folgt eine Erinnerung an die verschiedenen Verpflichtungen, die wir eingehen: das Gelände des Meditationszentrums nicht verlassen und innerhalb des Geländes, das ein Stückchen Wald einschließt, auf den abgezäunten Wegen bleiben; die räumliche Trennung von Männern und Frauen aufrechterhalten; die Stille wahren; weder mit der Außenwelt noch untereinander kommunizieren, auch nicht nonverbal; so weit wie möglich Blickkontakt vermeiden; sich bei Problemen an den Lehrer und nur ihn allein wenden; und schließlich, und das ist das Wichtigste, bis zum Schluss dableiben.
»Noch ist es Zeit abzureisen«, sagt der sympathische junge Mann, und sein freundliches Gesicht wird ernst. »Wenn ihr zweifelt, wenn ihr euch nicht sicher seid, ob ihr die genannten Verpflichtungen einhalten könnt, bitten wir euch, jetzt zu gehen. Niemand nimmt euch das übel. Ihr fügt weder anderen noch euch selbst Schaden damit zu. Ihr könnt jederzeit wiederkommen, wenn ihr euch bereit dazu fühlt. Unter den jetzigen Umständen zu gehen ist nicht feige, sondern im Gegenteil, es ist gut. Es ist der Beweis, dass ihr die Situation wertschätzt, das ist die richtige Haltung. Wenn ihr dagegen aus irgendeinem Grund beschließt, mittendrin abzubrechen, irritiert ihr die anderen und gefährdet vor allem euch selbst. Was im Laufe eines Vipassana-Retreats passiert, ist etwas sehr Ernstzunehmendes. Wir arbeiten mit starken psychischen Energien, das kann große Verwirrung stiften. Vielleicht wird es euch in den nächsten zehn Tagen schlecht gehen. Vielleicht fühlt ihr euch aus der Bahn geworfen und verloren, vielleicht weint ihr und habt Angst, vielleicht glaubt ihr, es sei falsch gewesen, hierherzukommen, das alles ist möglich, viele Reaktionen sind möglich und man kann sie nicht vorhersehen. Wenn es euch schlecht geht, sind die Lehrer da, um euch zu helfen. Aber ihr müsst zu dem stehen, was ihr heute Abend gelobt: Was auch immer passiert, ich werde bis zum Ende dableiben. Deshalb denkt bitte nach. Und wenn ihr nachgedacht habt, geht, wenn ihr gehen müsst, aber wenn ihr euch entscheidet zu bleiben, bleibt.«
Schweigen im Raum, ein längeres Schweigen als das, das man auf Hochzeiten erlebt, wenn der Form halber gefragt wird, ob irgendjemand Einwände gegen die Ehe habe. Niemand stellt die Frage: Aber wenn ich trotzdem gehen will, kann ich dann gehen? Oder werdet ihr mich davon abhalten? Sicher würde die Antwort lauten: Die Sache ist nicht, ob wir euch davon abhalten werden oder nicht, sondern, dass ihr nicht gehen sollt. Wie in jenem Balkanland, in dem das politische Personal ständig Zielscheibe von Attentaten war und man ein Gesetz erließ, das besagte: »Auf den Finanzminister schießen: fünfzehn Jahre. Auf den Innenminister schießen: zwanzig Jahre. Auf den Kammerherrn schießen: zehn Jahre. Auf den Premierminister zu schießen ist verboten.«
Niemand steht auf. Niemand geht. Ich ahne nicht, dass ich vier Tage später der Erste sein werde.