Читать книгу Yoga - Emmanuel Carrère - Страница 26
Die Halle
ОглавлениеDer Boden ist schwarz und schlammig, ich bin froh, gute Schuhe mitgenommen zu haben. Wir alle tragen Mützen und Parkas: Das Ganze könnte auch ein Aufbruch aus einer Berghütte vor Sonnenaufgang sein, nur dass man in Berghütten Tee oder Kaffee aus Thermoskannen trinkt, Müsliriegel isst und sich vor allem anschaut, ein paar Worte wechselt und das Gesicht verzieht, um klarzumachen, dass es einem schwergefallen ist, sich aus dem Schlafsack zu schälen. Hier nicht. Hier schaut sich keiner an. Man schaut auf die Erde oder in den Himmel, der sternenlos ist und genauso schwarz wie die Erde. Nach einem dritten Schlag verhallt der Gong. Am Eingang zur Halle beginnt der sympathische junge Mann, unsere Namen aufzurufen: Zu jedem gehört ein nummerierter Platz im Saal, wir werden ihn während der gesamten Zeit hier behalten. Wer aufgerufen wurde, betritt die Garderobe, zieht sich Parka und Schuhe aus, nimmt sich aus den Regalen Kissen und Decken und geht damit in den Saal. Es ist eine sehr große Halle, die durch einen drei oder vier Meter breiten Mittelgang in zwei Hälften geteilt ist. Links davon wir, die Männer, rechts davon die Frauen, die durch eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite hereinkommen. Auf jeder Seite flache, quadratische Kissen von etwa achtzig Zentimetern Seitenlänge. Ich habe diese Kissen später einmal gezählt: sechs in jeder Reihe, zehn Reihen, mal zwei, heißt, wir sind hundertzwanzig. Diese Unterlegkissen sind alle blau und ebenso die Zafus, von denen jeder so viele aufstapelt, wie seine Knie brauchen, um geradezusitzen, nur die Decken, in die sich die Männer hüllen, sind blau und die der Frauen weiß. Sie sind warm und flauschig, es ist ein Genuss, sich in sie zu schmiegen, aber man könnte genausogut darauf verzichten, denn die Halle ist so gut geheizt wie mein Zimmer. An der Stirnseite vor jeder Gruppe steht ein Podest, auf dem im Schneidersitz vor den Männern ein in eine blaue Decke gehüllter Mann sitzt und vor den Frauen eine in eine weiße Decke gehüllte Frau. Der Mann ist hager, sein Adamsapfel ragt hervor, sein Gesicht ist ruhig. Die Frau hat kurze, weiße Haare, aber ich kann sie nur aus ziemlicher Entfernung betrachten, denn mein Platz befindet sich am entgegengesetzten Rand des Männerbereichs. Im Übrigen verliere ich bald jedes Interesse für den Frauenbereich. Meine Nachbarn nehmen nach und nach ihre Plätze ein, sie werden von den quadratischen Kissen definiert, die dieselbe Funktion haben wie die Matten in Yogakursen: Alle Bewegungen müssen innerhalb dieses Raums ausgeführt werden, ohne dessen Grenzen zu überschreiten und in den von anderen einzudringen. Die Vorstellung, dass man sich mit einer Fläche von fünfzig mal hundertachtzig Zentimeter begnügen kann, hat etwas sehr Reizvolles. Man sagt sich, wäre man im Gefängnis, bräuchte man nur eine Yogamatte auszurollen, und man könnte in der beklemmenden Enge einer Zelle eine gewisse Freiheit behaupten. Einer meiner Nachbarn packt seine Pobacken und zieht sie auseinander, um seinen Beckenboden besser auf dem Kissen zu platzieren – eine Geste, die dem Laien einigermaßen fragwürdig erscheinen dürfte, an der man aber mit Sicherheit den erkennt, der Iyengar-Yoga praktiziert. Er tut das völlig zwanglos, und ich tue es ebenso und gebe damit meine Konfession preis, bevor ich die Meditationshaltung einnehme.