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Die Anweisung für die praktischen Aufgaben
ОглавлениеAlle sind still, außer mein Nachbar rechts von mir, der sich erst nach mir hingesetzt hat und ein Mordsspektakel macht: Räuspern, Schmatzen, Schnauben – wobei mir bei seinem Schnauben scheint, er macht das absichtlich, weil er meint, so atme man richtig, und es kümmert ihn nicht im Geringsten, dass er der Einzige ist, der das meint. Zehn Tage neben diesem Typen ist wie mit jemandem in einem Raum zu schlafen, der schnarcht oder stinkt – keine Ahnung, wie ich das aushalten soll. Ich öffne kurz die Augen, blicke flüchtig nach rechts und wundere mich nicht, den kleinen Herrn mit Spitzbart und Strickpulli wiederzusehen, der mich in den längst vergangenen Zeiten, als wir noch sprachen, schon mit seinem Gerede übers Loslassen genervt hat. Loslassen, im Moment leben – ich kenne diese Leier, und auch wenn mir die Idee grundsätzlich richtig erscheint, ist mir aufgefallen, dass man sie, genau wie große Reden über Anarchismus, oft von schrecklichen Zwangsneurotikern hört. Genauso ist mir aufgefallen, dass der kleine Herr, der so gern mit seiner Gelassenheit glänzen wollte, jede, aber auch jede Aufgabe – wie eine Schüssel in die Hand nehmen oder Bierhefe in die Suppe streuen – mit doppelt so vielen Bewegungen ausführt wie nötig. Schon gestern Abend hat er mich an jemanden erinnert, und jetzt plötzlich fällt mir ein, an wen: Monsieur Ribotton, einen Biologielehrer, den ich in der achten Klasse hatte. Es gibt großartige Lehrer, die echte Erwecker sind, sie sind selten und es ist ein großes Glück, auf einen zu treffen, und sei es auch nur einen in der gesamten Schulzeit. Aber man begegnet auch Durchgeknallten, und die Durchgeknalltheit von Monsieur Ribotton äußerte sich in einer sehr speziellen Weise. Der Biologieunterricht beinhaltet praktische Aufgaben, und diese bestehen vor allem darin, Frösche zu sezieren. Um uns darauf vorzubereiten, hatte Monsieur Ribotton eine »Anweisung für die praktischen Aufgaben« ausgearbeitet, und er verbrachte die gesamte erste Stunde damit, ihre Bedeutung herauszustellen, und die zweite, sie uns zu diktieren. Die Anweisung war so detailliert und ausschweifend und sie berücksichtigte so viele mögliche Szenarien, die sich während der praktischen Aufgaben ergeben könnten, dass das Diktat noch in der dritten, vierten und fünften Stunde fortgesetzt wurde, und in der ersten Klassenarbeit wurde nicht der Lehrstoff abgefragt, sondern die Anweisung für die praktischen Aufgaben. Unsere Ergebnisse enttäuschten Monsieur Ribotton jedoch, wir hatten die Anweisung für die praktischen Aufgaben nicht richtig verstanden und verinnerlicht. Sie musste also wiederholt, vertieft und ergänzt werden. Noch einmal diktiert und noch einmal abgeschrieben werden. Unsere Hefter nahmen im selben Maß an Umfang zu wie die Anweisung für die praktischen Aufgaben, die immer mehr jener Art von Verträgen ähnelte, bei denen man vor Unterzeichnung erklären muss, sie zur Kenntnis genommen zu haben, obwohl sie tausend Seiten umfassen und niemand sie je liest. Das ganze Schuljahr belief sich darauf, diese sich ständig erweiternde Anweisung für die praktischen Aufgaben abzuschreiben, auswendig zu lernen und in Tests wiederzugeben, ohne dass wir je eine einzige Stunde derart streng geregelte praktische Aufgaben aufbekommen hätten. Monsieur Ribotton muss schon längst tot sein, doch ich habe den Eindruck, seine Reinkarnation an meiner Seite sitzen zu haben, und ich denke mir, zehn Tage neben Monsieur Ribotton zu meditieren und seiner schnaubenden Atmung und manischen Ausstrahlung ausgeliefert zu sein, das wird kein Spaziergang. Aber sobald ich das gedacht habe, denke ich sofort das nächste, nämlich dass auch ich nicht unbedingt ein Spaziergang bin und das Wesen der Meditation doch genau darin besteht, Monsieur Ribottons Anwesenheit neben mir als Segen zu betrachten. Nicht als Anlass, um sich aufzuregen oder verächtlich und ironisch zu werden, sondern als Gelegenheit, um Wohlwollen und Gleichmut zu entwickeln. Denn eine weitere Definition für Meditation – ich glaube, es ist schon die fünfte – ist: sich auf alle Widrigkeiten einzulassen, die das Leben so bereithält, statt davor wegzulaufen. Das heißt, die Widrigkeit zu erforschen und mit der Widrigkeit genauso zu arbeiten wie mit dem Atem. Und das ist auch gleich die sechste Definition: lernen, nichts zu bewerten, oder zumindest weniger, ein bisschen weniger zu werten. Also jene hochtrabende Position aufzugeben, die sowohl ein moralischer Fehler als auch ein philosophischer Irrtum ist. Wie heißt es noch in dem buddhistischen Sutra, das ich so mag, dass ich es schon zweimal in einem Buch zitiert habe: »Der Mensch, der sich einem anderen gegenüber für überlegen, unterlegen oder selbst für gleichwertig hält, begreift die Wirklichkeit nicht.«