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Freundschaft zu den Nasenlöchern
ОглавлениеDie Luft strömt in meine Nasenlöcher ein. Ich beobachte ihr Einströmen. Die Luft strömt aus meinen Nasenlöchern aus. Ich beobachte ihr Ausströmen. Es ist ein ruhiges, regelmäßiges Strömen. Ich beobachte, wie die Luft die Naseninnenwände berührt. Es ist eine leichte, zarte Berührung. Die Nasenlöcher sind ein gutes Objekt für die Aufmerksamkeit, weil sie mit vielen Nervenbahnen durchzogen sind. In den Nasenlöchern passiert immer irgendetwas. Man kann zwei Stunden lang über Nasenlöcher meditieren, ohne sich zu langweilen. Diesmal fängt die Sitzung gut an: Meine Nasenlöcher sind meine besten Freunde. Wenn man den Eingang ein wenig hinter sich lässt und etwas in ihre Hohlräume dringt, werden sie zu riesigen Grotten. Je mehr man sie erkundet, je länger man ihre Wände entlangspürt, desto größer werden sie und desto mehr füllen sie sich mit Empfindungen: Stechen, Prickeln, Kribbeln. Pulsieren … Ja, ein Pulsieren, das praktisch alles andere überlagert. Etwas pulsiert. Ich beobachte dieses Etwas. Identifiziere mich mit dem Pulsieren. Es ist nicht unangenehm, man beobachtet es nicht ungern. Es tut gut. Es tut gut, nur meine Haltung ist eingebrochen. Eingesackt. Ich muss mich wiederaufrichten, ohne deshalb aufzuhören, das Ein- und Ausströmen des Atems an meinem Naseneingang zu verfolgen und zugleich ohne das Pulsieren in der Tiefe meiner Nase außer Acht zu lassen. Ich strecke die Wirbelsäule, recke den höchsten Punkt des Schädels Richtung Himmel. Das gleichzeitig zu tun ist viel, der Geist nutzt das Durcheinander, um sich davonzustehlen. Der Geist stiehlt sich ständig davon, er stiehlt sich aus dem Jetzt, er stiehlt sich aus der Wirklichkeit – was dasselbe ist, denn nur das Jetzt ist wirklich. Der tibetische Meister Chögyam Trungpa pflegte zu sagen: Wir widmen nur 20 % unserer Gehirntätigkeit der Gegenwart. Die übrigen 80 % richten manche mehr auf die Vergangenheit und andere mehr auf die Zukunft aus. Ich zum Beispiel greife viel vor und lebe wenig in der Erinnerung. Nostalgie liegt mir fern. Man könnte das als Eigenschaft eines zuversichtlichen, optimistischen Charakters interpretieren, der nach vorn blickt, doch ich fürchte, es ist eher die eines obsessiven Typs, der genau weiß, dass man die Vergangenheit nicht mehr ändern kann, während man sich bei der Zukunft noch vormachen kann, sie beeinflussen zu können. Um dieser Illusion nicht auf den Leim zu gehen, sage ich mir oft den großartigen Spruch auf: »Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen!« Das hält mich nicht davon ab, ihn weiter zum Lachen zu bringen. Ich bin sicher, wenn Gott Lust auf ein bisschen Ablenkung hat und mal herzhaft lachen will, dann schaut er mir zu, wie ich auf meinem Zafu sitze und meine Atmung beobachte, das Innere meiner Nase scanne und gleichzeitig an mein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga denke. An seinen Umfang, seine Kapitel, seine Zwischentitel. Ich bin sogar schon dabei, Sätze zu formulieren und mich zu fragen, bei wie vielen Definitionen von Meditation ich schon angekommen bin, doch in dem Moment wird mir bewusst, dass die Gedanken mich fortgerissen haben: Tschüss Gegenwart und Chögyam Trungpa, erzähl Gott von deinen Plänen, dem nächsten Buch, den Sätzen des nächsten Buchs, dem Erfolg des nächsten Buchs … Es ist Zeit, zu den Nasenlöchern zurückzukehren. Zeit, zur Luft zurückzukehren, die durch die Nasenlöcher strömt. Einatmen, ausatmen, inhale, exhale. Die Luft ist ein bisschen kühler, wenn sie einströmt, und ein bisschen wärmer, wenn sie nach dem langen Weg durchs Innere wieder ausströmt. Draußen. Drinnen. Wann ist sie noch draußen, wann bereits drinnen? Achte mögliche Definition für Meditation: Man beobachtet die Berührungspunkte von dem, was man selbst ist, und dem, was man nicht selbst ist. Dem Innen und Außen. Dem Interieur und dem Exterieur.