Читать книгу Yoga - Emmanuel Carrère - Страница 36
Patanjali im Café de l’Église
ОглавлениеEs gibt einen kanonischen Text über Yoga, der entweder im dritten Jahrhundert vor oder im zweiten nach Christus entstanden ist – so genau weiß man das nicht – und der Patanjali zugeschrieben wird, der angeblich auch Grammatiker war. Es ist eine schmale Sammlung von Sutras, das heißt lakonischen, schwer zugänglichen Aphorismen, in denen es an keiner Stelle um Yoga in dem Sinn geht, wie wir es verstehen: als Gymnastik. Yoga in dem Sinn, wie wir es verstehen, dürfte es auch damals schon gegeben haben, denn Plutarch berichtet, die Soldaten von Alexander dem Großen seien bei ihrer Ankunft in der Gangesebene verblüfft gewesen, sogenannte »Gymnosophisten« gesehen zu haben, also Leute, die sich verrenkten, um Weisheit zu erlangen, mit anderen Worten: Yogis. Doch Patanjali interessierte sich nicht für Verrenkungen. Er kannte keine andere Haltung als den unbewegten Lotussitz. In Aussicht auf das Buch über Yoga und Meditation, das ich schreiben wollte und das damals, Sie wissen warum, Ausatmen heißen sollte, ging ich im Winter 2015 jeden Morgen ins Café de l’Église an der Place Franz Liszt, um Patanjali zu lesen und verschiedene französische Übersetzungen zu vergleichen (nach gründlicher Abwägung empfehle ich die von Françoise Mazet bei Albin Michel) und mir in einem extra Büchlein Notizen zu Patanjali zu machen. Abgesehen davon, dass diese Beschäftigung lehrreich für mich war, verschaffte sie mir auch ein befriedigendes und vielleicht übertrieben schmeichelhaftes Selbstbild. Heute, da mein Leben komplett abgedriftet ist, denke ich an diese Morgensitzungen im Café de l’Église mit einer Mischung aus Nostalgie, bitterer Ironie und im Nachhinein Fassungslosigkeit. Denn damals strotzte ich vor Selbstgewissheit. Ich war glücklich. Und ich glaubte, das würde so bleiben. Patanjali interessiert sich wie alle indischen Denker seit der Zeit der Upanishaden und wie Hervé nur für eine einzige Frage: Gibt es einen Weg, um aus dem Schlamassel herauszukommen, den wir Erdendasein oder Conditio humana oder Samsara nennen? Können wir uns dekonditionieren? Jede andere Frage, jede andere Beschäftigung ist sinnlos. »Nichts anderes lohnt sich zu erkunden«, sagen Patanjali und Hervé. Die gute Nachricht, wiederum laut Patanjali und Hervé, ist: Die Antwort auf diese Frage lautet ja. Ja, es gibt einen Ausweg. Ja, Dekonditionierung ist möglich. Sie ist nicht einfach, sie ist eine Lebensaufgabe oder eine für mehrere Leben, aber sie ist möglich und Yoga zielt genau darauf ab. Es ist eine Technik der Bewusstseinsüberwindung durch Bewusstseinsbeobachtung. Und Patanjali ist ein unvergleichlicher Beobachter. Er kennt das Unbewusste mindestens so gut wie Freud, und er legt seine Entdeckungen auf indische Art dar: indem er auflistet. Die sechs Darshanas (das sind Systeme des brahmanischen Denkens, Yoga ist eines davon), die drei Gunas (die Grundelemente der Materie und, als solche gedacht, auch der Bewusstseinszustände), die fünf Yamas (notwendige Entsagungen), die fünf Niyamas (nicht weniger notwendige Disziplinen), die fünf Arten von Chittavritti (alles, was den Bewusstseinsstrom bewegt), die acht Glieder des Ashtanga (das Yoga des Patanjali) … Die Inder lieben Listen und endlose Klassifizierungen, die uns willkürlich erscheinen. Es ist ihre Art, sich die Welt anzueignen, während unsere eher die Chronologie ist, die den Indern wiederum völlig fremd ist. Patanjalis Listen und Klassifizierungen psychischer und spiritueller Phänomene sind äußerst interessant, und es lohnt sich, sie im Detail zu studieren. Angetrieben von meinem Buchprojekt über Meditation und Yoga habe ich viele Stunden im Café de l’Église damit zugebracht. Sucht man also eine bündige Definition für Yoga und eine neunte – alle anderen einschließende – für Meditation, bieten sich die vier Sanskritworte an, die den zweiten Vers des Yogasutra bilden, nämlich yogash chittavritti nirodhah.