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Ausatmen
ОглавлениеMein ganzes Leben schon leide ich an einem Symptom: Das Einatmen fällt mir leicht. Es ist ausholend und gleichmäßig. Die Rippen dehnen sich, der Bauch wölbt sich, es scheint, als könnte ich mich ewig mit Luft füllen. Doch dann kommt der Moment, da sich diese satte Einatmung in Ausatmung verwandeln muss, und die dagegen ist verkrampft und verspannt. Sie fällt kurz aus. Das, was sie von Zwerchfell bis Unterbauch eigentlich entspannen sollte, spannt sie an, presst sie zusammen, zwängt sie ein. Es ist, als steckte sie in einem Engpass fest, in einem Knoten unter dem Brustbein, einem Knoten wie bei einem abgeknickten Gartenschlauch. Ich habe mich lange gefragt, ob dieser Knoten organischer oder psychischer Natur ist. Röhrensystem oder Unbewusstes. Ärzte haben mir kleine Tabletten gegen Sodbrennen verschrieben, das bei Angstpatienten häufig vorkommt. Diese Tabletten haben keinerlei Auswirkung auf das, was ich als identitätsstiftend ansehe und was Yoga besser erreicht. Denn Einatmen ist Nehmen, sagt das Yoga, Einatmen ist Erobern, sich Aneignen, und damit habe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten, es ist sogar das Einzige, was ich kann, und mein Brustkorb ist ein Spiegel meiner Gier. Ausatmen dagegen ist etwas anderes. Ausatmen ist Geben statt Nehmen, Zurückgeben statt Behalten. Ausatmen ist Loslassen. Und in dem Punkt – wie in vielen anderen auch – ist Hervé das Gegenteil von mir. Ausatmen ist seine Stärke. Er will nichts anderes, als sich leer und leicht zu machen. Wir alle sind in unserem Leben nur auf Durchreise, aber er ist sich dessen bewusst. Er richtet sich im Leben nicht ein, er empfindet sich eher als Mieter oder noch eher als Untermieter, während ich den Drang zum Eigentümer habe, der seinen Besitz vermehren und, wie die biblischen Patriarchen, »wachsen und gedeihen« will. Es ist mein natürlicher Instinkt zu wachsen, so wie es seiner ist zu schrumpfen. Ich strebe nach dem Licht, er nach dem Schatten. Mich zieht es zum Südhang, ihn zum Nordhang. Zwei Seinsarten, zwei Menschentypen, und dieser Charakterunterschied ist die Basis unserer Freundschaft: Yang-Mensch, Yin-Mensch, Mensch der Einatmung, Mensch der Ausatmung. Ausatmen heißt im Grunde, den letzten Atemzug, den letzten Seufzer zu tun, die Seele hinzugeben. Die Angst unter meinem Solarplexus ist nichts anderes als Todesangst, und was ich in den mir noch verbleibenden Lebensjahren zu lernen habe, ist, denke ich, das Ausatmen.