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Das Spiel mitspielen
ОглавлениеDie Edle Stille hat begonnen. Auf blechernen Servierwagen schieben die Kurshelfer Riesenportionen Reis und gekochtes Gemüse herein, das man mit Sojasoße, Bierhefe oder Gomasio würzen kann. Jeder nimmt sich eine Schale oder einen Teller vom Stapel, den er nach Gebrauch nicht abwäscht, sondern einfach in eine der Wannen stellt, die von den Kurshelfern später weggetragen werden. Da alle materiellen Verpflichtungen auf ein Minimum reduziert sind, hat man nichts, aber auch gar nichts anderes zu tun als zu schweigen und den Blick nach innen zu richten. Dem der anderen weicht man aus. Man starrt auf seinen Teller, isst sehr langsam, kaut sehr langsam – eine Gewohnheit, an der man sonst die Kontrollfreaks erkennt und die ich mir seit Jahren relativ erfolglos zuzulegen versuche. Nach beendeter Mahlzeit geht man früh schlafen. Jeder begibt sich gesenkten Blickes in seinen Bungalow oder seinen Schlafsaal. Um acht Uhr abends liege ich in meinem Bett, ohne Buch, ohne Ablenkung und natürlich ohne Lust zum Schlafen. Ich betrachte den Klotz Nacht, der sich im Fenster vor mir abzeichnet. Ich betrachte die kleine Zwillingsfigur, die ich in das leere Regal wie auf einen Hausaltar gestellt habe. Eigentlich hätte ich jetzt Lust, so wortgetreu wie möglich die Rede des sympathischen jungen Manns und meine Eindrücke von diesem Abend aufzuschreiben. War es richtig gewesen, das Spiel mitgespielt und kein Notizbuch eingesteckt zu haben? Ja, denn das hätte geheißen, aus der Erfahrung eine Reportage zu machen. Gleichzeitig ist es lächerlich, mir in die Tasche zu lügen: Was ich hier mache, ist eine Reportage. Oder sagen wir: Es ist auch eine Reportage. Ich liege auf der Lauer. Ich bin hier, um Stoff für mein Buch zu sammeln, und ob ich mir Notizen mache oder nicht, ändert daran nichts, denn was sich zu erinnern lohnt, wird meiner Meinung nach auch erinnert werden. Das also ist nicht die Frage. Die Frage ist eher, und ich stelle sie mir nicht zum ersten Mal: Gibt es einen Widerspruch oder sogar eine Unvereinbarkeit zwischen dem Meditieren und meinem Beruf, dem Schreiben? Werde ich während der nächsten zehn Tage meine Gedanken vorüberziehen lassen können, ohne sie festzuhalten, oder werde ich ganz im Gegenteil um jeden Preis versuchen, sie festzuhalten – also genau das tun, was man nicht tun sollte, weil es das exakte Gegenteil von Meditation ist? Werde ich mir ständig im Geist Notizen machen? Wird während dieser zehn Tage der Meditierende den Schriftsteller beobachten oder der Schriftsteller den Meditierenden? Ein großes, wirklich großes Thema, das mir zusetzt und über dem ich schließlich einschlafe.