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Das Bardo

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Nach der tibetischen Tradition sind die Tage kurz nach dem Tod entscheidender als die davor. Der Gestorbene dringt in ein dunkles Zwischenreich vor, ein psychisches Labyrinth, aus dem entweder die Befreiung vom Samsara herausführt, das auch unter dem Namen Erdendasein bekannt ist, oder eine neue, mehr oder weniger vorteilhafte Wiedergeburt oder aber die Hölle. Diese twilight zone, durch die jeder nach seinem Tod durchmuss, nennt sich Bardo. Die tibetischen Buddhisten haben ihn extrem genau kartografiert: trügerische Abzweigungen, Erdrutsche, Rudel wilder Hunde, Wege, die nirgends hinführen, Licht am Ende des Tunnels … Der Führer durch das Bardo, das tibetische Totenbuch Bardo Thödröl, wurde dem Verstorbenen während der drei Tage nach seinem Tod ins Ohr gelesen, um ihn auf seiner Reise zu begleiten. Ich kann mir gut vorstellen, wie S. N. Goenka dieses Ritual vollzog. Ich glaube, wenn ich gerade gestorben wäre, mein Körper im Sarg läge und meine Seele im Bardo herumirren würde, fände ich es auch sehr beruhigend, an meinem Ohr seine tiefe, friedliche, versonnene, wunderbar gleichförmige Stimme eine unverständliche Sprache murmeln zu hören, die so alt ist wie die Menschheit und an deren Tempo ich mich gewöhne, so wie man sich an indische Musik gewöhnt. Statt einer Melodie zu folgen, die sich linear und mehr oder weniger schnell oder langsam entwickelt, versetzen diese sich unendlich lang hinziehenden Stücke, die man Ragas nennt, in eine Reglosigkeit, die nach allen Seiten ausstrahlt, sodass man einerseits nie weiß, wo man sich gerade befindet, und andererseits immer im Zentrum ist. Der Abstand zwischen S. N. Goenkas Sätzen ist jetzt so groß geworden, dass man sich bei jedem Satz denkt, das ist sicher der letzte, und dann, weil es nicht der letzte ist, dass S. N. Goenka oder derjenige, dessen Avatar er ist, uns weiterführen wird, bis wir das Samsara verlassen haben. Von S. N. Goenkas Stimme gewiegt, fühlt man sich in Sicherheit und bereit, sich ins Bardo vorzuwagen oder in die Tiefen des eigenen Selbst, was wahrscheinlich dasselbe ist. Von S. N. Goenkas Stimme betört, werden die kleinen Affen, die ständig von Ast zu Ast springen und in der buddhistischen Vorstellung die Unruhe und Zerstreutheit des Geistes verkörpern, ruhiger und setzen sich brav zu seinen Füßen. Und dann kommt der Moment, da S. N. Goenka und sein Übersetzer wirklich nichts mehr sagen. Man muss sich damit abfinden, dass der letzte Satz wirklich der letzte war und wir uns selbst überlassen sind.

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