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Einleitung: Entdeckungsgeschichte und Deutungsversuche der Cheopspyramide

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Die jahrhundertealte Entdeckungsgeschichte der Cheopspyramide kann man mit der Erforschung eines unbekannten Kontinents vergleichen. Ihre finsteren, von Schutt und Geröll gefüllten und von Fledermäusen bewohnten Schächte und Gänge, die geheimnisvollen Kammern und bedrohlichen Sperrvorrichtungen machten das Eindringen in die Pyramide zu einem gefährlichen Abenteuer. Die kontroversen Deutungsversuche der Cheopspyramide hatten eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Griechen und Römer wetteiferten in der Kritik an den tyrannischen Erbauern der Pyramiden, unter denen Cheops der Erbarmungsloseste gewesen sein sollte. Bei den Arabern des Mittelalters gingen sowohl die Kenntnis von der Lage des wieder zugedeckten Eingangskanals als auch die Namen der Könige verloren. Doch schwärmten sie nicht nur in den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht von sagenhaften Schätzen, die in den Pyramiden vorhanden sein sollten, sondern vertraten diese Träumereien allen Ernstes auch in ihren Geschichtswerken. In diesen Berichten legten sie auch den Grund für die Auffassung, dass diese Bauten nicht nur Schatzkammern der verstorbenen Könige, sondern auch die unzerstörbaren Aufbewahrungsorte aller wissenschaftlichen Erkenntnisse seien, welche die Menschheit bereits vor der Sintflut zustande gebracht hatten. Auch in der Renaissance kam man zu der Vorstellung, dass die alten Ägypter über ein bereits in der Antike verloren gegangenes Wissen verfügt haben, das erst die Errichtung der großen Pyramiden ermöglichte. Das war auch der Grund, warum sich europäische Gelehrte der beginnenden Neuzeit in die unheimlichen, von Fledermäusen und Schutt verfüllten Gänge und Schächte wagten, die von den einheimischen Arabern als wahre Todesfallen angesehen wurden. Mit den zunehmend immer exakter werdenden Vermessungen der Cheopspyramide stellten die europäischen Reisenden und Pyramidenforscher eine erstaunliche Genauigkeit der Ausrichtung ihrer Seiten nach den vier Himmelsrichtungen und ebenso weiterer astronomischer Orientierungen ihrer Gänge und Schächte fest.

Derjenige aber, dem das Verdienst zukam, die erste vollständige wissenschaftliche Erkundung und Vermessung der Cheopspyramide durchgeführt zu haben, war der englische Astronom John Greaves. Als ein hervorragender Kenner des klassischen Altertums und der alten orientalischen Sprachen war sein ganzes Bemühen darauf gerichtet, durch einen Vergleich der unterschiedlichen Maßeinheiten der alten Völker das Urmaß der frühen Menschheit zu ermitteln, das man in der Maßeinheit der Großen Pyramide zu finden hoffte. Die Grundlage für eine derartige Zielsetzung bildete die sehr früh im 17. Jahrhundert aufgekommene Meinung, dass diese ursprüngliche Maßeinheit in Beziehung zur Größe und Gestalt der Erde stehe und dass das gesamte System der alten griechischen, römischen, asiatischen und ägyptischen Maßeinheiten nur eine korrupte Version dieses ehrwürdigen Stücks einer verloren gegangenen Geodäsie sei. Daher hatte Greaves nicht nur in Italien die antiken Gebäude und Statuen vermessen, sondern brach auch nach Ägypten auf, um durch die Vermessung der ältesten Baudenkmäler der Welt dem Urmaß der Menschheit näherzukommen.

Greaves’ Rekonstruktionen der alten Maßeinheiten, die ihren Höhepunkt in der Vermessung der Dimensionen der Cheopspyramide erreichten, wurden mit größtem Interesse von keinem Geringeren als von dem Begründer der neuzeitlichen Physik, Isaac Newton, aufgegriffen, der aber selbst nie in Ägypten war. Man findet diese Untersuchungen in seinen heutzutage kaum bekannten historisch-theologischen Schriften. Die darin enthaltene Abhandlung über die Maßeinheit der Cheopspyramide, die er mit der sakralen Elle der Juden, welche die Maßeinheit des zerstörten Tempels Salomons sein sollte, in Zusammenhang bringt, bildete die Grundlage für die weiteren Spekulationen seiner gelehrten Nachfolger in England. Denn diese konnten sich auf seine ausdrückliche Feststellung berufen, dass die sakrale Elle auf geheime Art und Weise für die Erkenntnis der Christen aufbewahrt worden ist. Wenngleich Newton in seiner Abhandlung mit keinem Wort irgendein Verhältnis andeutet, dass die heilige Elle, dieses von Gott geoffenbarte Urmaß der Menschheit, in irgendeiner Weise mit der objektiven Metrik des physischen Universums zusammengebracht werden kann, so ist doch gerade diese Überlegung nicht außerhalb seiner Denkweise gewesen. Denn die Erforschung der Geschichte der Menschheit und die Erforschung der Natur waren für ihn ein und dasselbe: Zwischen der Geschichte des physischen Universums und der Geschichte der Menschheit sind nach seiner Vorstellung eindeutige Entsprechungen vorhanden, und zwar in der Weise, dass ein chronologisches Ereignis in der politischen Geschichte der alten Welt übersetzt werden kann in ein astronomisches Ereignis und umgekehrt.

Eine ganz andere Dimension erhielt die Erforschung der Cheopspyramide durch den Ägyptenfeldzug Napoleons. Dieser Feldzug vom Jahre 1798, der die Vorherrschaft Frankreichs gegenüber England im Mittelmeer begründen sollte, war zwar ein militärisches Desaster, aber zugleich eine wissenschaftliche Großtat. Denn in der Armee Napoleons befand sich eine Kommission von Gelehrten, die mit ihren Beschreibungen und Vermessungen der Altertümer Ägyptens, welche in dem monumentalen Werk der „Description de l’Égypte“ ihren Niederschlag fand, die Ägyptologie als Wissenschaft erst begründet hat. Unter diesen Wissenschaftlern in der Armee Bonapartes befand sich auch der junge und fantasiereiche Ingenieur Edme-François Jomard. Für ihn war alles an der Bauweise und Anlage der größten Pyramide geheimnisvoll. Nach seiner Meinung war ihre Bestimmung als Grab, wenn diese überhaupt eine Rolle gespielt haben sollte, nicht ihr wichtigster Zweck, vielmehr soll sie nach seiner Meinung auch astronomischen Beobachtungen gedient haben. Aus der kaum glaublichen Präzision der Ausrichtung der Cheopspyramide nach den vier Himmelsrichtungen schließt er, dass die Pyramidenbauer über ein großes, uns unbekanntes Ausmaß an Geschicklichkeit, Wissen und Erfahrung verfügt haben mussten, und nimmt daher an, dass in diesem Bauwerk ungewöhnliche und fast unerklärlich wichtige Erkenntnisse und Fakten eingeschlossen sind. Jomard lieferte damit auch den Anlass zu einem mehr als 200 Jahre andauernden Streit um die Maßeinheit der Cheopspyramide, als er versuchte, sie mit dem damals schon seit zehn Jahren in Frankreich eingeführten Meter in Zusammenhang zu bringen. Diese Maßeinheit sollte als natürliche, an der Größe und Gestalt der Erde abgelesene Längeneinheit das damalige Chaos der Maßsysteme be reinigen.

Der heftigste Gegner dieser an den Maßen der Cheopspyramide orientierten Rechtfertigung des französischen Meters war der Londoner Verleger und Buchhändler John Taylor. Dieser hatte sich jahrzehntelang mit der großen Pyramide beschäftigt. Er selbst war zwar wie auch Newton nie in Ägypten gewesen. Aber er konnte die sorgfältigen Vermessungsdaten von Colonel Howard Vyse benutzen, um seine Theorie über den Zweck und den Erbauer dieser Pyramide zu begründen. Mit dieser Theorie behauptete er, dass der Erbauer der Großen Pyramide weder Cheops noch einer seiner Architekten sein konnte. Dieser musste seiner Meinung nach wegen der in der Großen Pyramide verborgenen mathematischen und astronomischen Kenntnisse vielmehr aus einem von Gott auserwählten und von ihm inspirierten Volk stammen. Eine derart mystische Deutung hätte unter den zeitgenössischen Wissenschaftlern kaum Beachtung gefunden, wenn Taylor nicht kurz nach Erscheinen seines Werkes über die „Große Pyramide“ noch ein zweites, heute weitgehend unbekanntes Buch über den Kampf um die Maßeinheit der Längenmessung („The Battle of the Standards“) veröffentlicht hätte. Dort versucht Taylor eine auf seiner Pyramidentheorie begründete Verteidigung der britischen Maßeinheit gegenüber dem französischen Einheitsmaß „Meter“, das den zehnmillionsten Teil des Erdmeridianquadranten darstellt und nach Jomard bereits in den Abmessungen der Cheopspyramide abzulesen sein soll. Im Gegensatz dazu soll nach der Auffassung von Taylor der britische Zoll, der nur um ein Tausendstel von der wahren Maßeinheit der Großen Pyramide abweicht, als Standard-Maßeinheit verwendet werden, weil er den Polradius in einem ganzzahligen Verhältnis wiedergibt.


Abb. 1: Die Ahnherren der Pyramidenfantasten: Edme-François Jomard, John Taylor und Piazzi Smyth (zusammengestellt nach Porträts aus dem 19. Jahrhundert)

Diese Idee fand auch bei dem damals berühmtesten englischen Astronomen John Herschel Unterstützung, der zu dieser Zeit Mitglied der britischen Standard Commission war. Eine noch viel größere Beachtung fanden die Vorstellungen Taylors über ein in der Großen Pyramide verborgenes Urmaß der Menschheit bei dem königlich-schottischen Astronomen Piazzi Smyth, der seine Kariere als Assistent Herschels begonnen hatte. Er nahm sich nicht nur der Ideen Taylors über die Maßeinheit an, sondern verteidigte auch dessen mystische Theorie. In seinem Buch „Our Inheritance in the Great Pyramid“ stellt Piazzi Smyth die Behauptung auf, dass die Kenntnisse astronomischer und geodätischer Fakten wie Größe, Gestalt und spezifisches Gewicht der Erde bereits aus den Dimensionen und der inneren Struktur der Großen Pyramide herauszulesen sind. Um diese Behauptung zu beweisen, brach er nach Ägypten auf und lieferte nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Gräberfeld von Giseh eine bis zu dieser Zeit unerreicht genaue Vermessungsarbeit an der Großen Pyramide.

Nach dem Erscheinen des dreibändigen Werkes über seine Vermessungsarbeit, deren Ergebnisse nach Auffassung auch der heutigen Ägyptologen noch in manchem Standard sind (Stadelmann 1991), aber mit denen er auch die religiösen Spekulationen Taylors unterstützte, setzte geradezu eine Epidemie von weiteren Pyramidenfantastereien ein, die schließlich in dem Sumpf der sogenannten Pyramidologie endete. All diese Fantastereien gelten jedoch schon seit William Flinders Petrie als widerlegt. Dieser Pionier der wissenschaftlichen Ägyptologie wollte zwar ursprünglich seine erneuten und umfangreichen Vermessungen der Pyramiden von Giseh zur Bestätigung der Vorstellungen von Piazzi Smyth durchführen, ist aber dann in Wirklichkeit zu einem gegensätzlichen Ergebnis gekommen. Die Tragik des Lebens von Piazzi Smyth bestand darin, dass er frühzeitig und dann immer tiefer in die Klauen der religiös motivierten sektiererischen Pyramidologen geriet und damit zu einer gespaltenen Persönlichkeit wurde: einerseits der weltweit Bekannteste aller Pyramidenfantasten, der in der Wüste Ägyptens an der Cheopspyramide eine bis heute anerkannte Vermessungsarbeit vollbrachte, und andererseits einer der bedeutendsten Astronomen, der als Begründer der „mountain astronomy“ in der klaren Luft über den dichten Wolken der Gipfel hoher Berge seine wissenschaftlichen Forschungen fortsetzte.

Cheops' Geheimnis

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