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Keplers Traum
ОглавлениеEine der wichtigsten Botschaften von Galileis „Sidereus Nuncius“, die Entdeckung der Jupitermonde, lieferte Johannes Kepler (1571 – 1630) ein Argument für die Bewohnbarkeit der Planeten des Sonnensystems. Im Jahre 1610 schrieb er in seiner „Unterredung mit dem Sternboten“ (Dissertatio cum nuncio sidereo) an Galilei: „Wenn vier Monde den Jupiter in ungleichen Abständen und Umlaufzeiten umkreisen, dann muss man fragen, wem das wohl nützen mag, wenn es keine Wesen auf dem Jupiterball gibt, die diesen wunderbaren Wechsel mit ihren Augen schauen könnten.“ Was aber die Bewohnbarkeit des Mondes anbelangt, so hatte Kepler bereits konkrete Vorstellungen entwickelt, die weit über Beobachtungen Galileis hinausgehen. Denn er sieht in den durch das Fernrohr sichtbaren Ringwällen ungeheure Bauten, die von den mit großartigem Geist und stolzen Kräften ausgestatteten Mondbewohnern errichtetet worden sind: „Da sie einen Tag haben, der 15 Erdentage lang ist, und unerträgliche Hitze zu verspüren bekommen, da sie vielleicht auch keine Steine haben, um Schutzmauern gegen die Sonne zu errichten, dagegen vielleicht lehmartige, zusammenhaltende Erde, so wird bei ihnen das also die übliche Bauweise sein, dass sie riesige Ebenen tiefer legen, indem sie Erde in einer Kreisform hinausschaffen und ringsum aufhäufen, vielleicht auch in der Absicht, in der Tiefe Wasser zu finden. So können sie auf dem vertieften Grund hinter den aufgeworfenen Wällen im Schatten liegen und in ihrem Innern mit der Bewegung der Sonne dem Schatten folgend herumwandern. Und es kann für sie eine Art Stadt entstehen: die Häuser als eine Menge Höhlen, in jenen kreisrunden Sockel hineingegraben, Äcker und Weideland in der Mitte, damit sie auf der Flucht vor der Sonne sich dennoch nicht allzu weit von ihrem Besitz zu entfernen brauchen“ (Kepler 1610, Ges. Werke IV, S. 299, dt. Übers. nach F. Hammer in der Faksimile-Ausgabe der Dissertatio, München, S. 22). Diese fantasievollen Vorstellungen hat Kepler später in seinem Traum vom Mond weiterentwickelt, den sein Sohn Ludwig nach seinem Tode im Jahre 1634 in Frankfurt veröffentlichte.
Keplers Traum vom Mond und seinen Bewohnern verbindet sich in eigentümlicher Weise mit der Gestalt seiner unglücklichen Mutter, die in einen Hexenprozess verwickelt war (vgl. Oeser 1971, S. 75 ff.). Am 7. August 1620 wird die „Keplerin“ unter dem Verdacht, Zauberei und Hexerei getrieben zu haben, in dem Ort Heumaden bei Stuttgart im Hause ihrer Tochter mitten in der Nacht verhaftet. Um kein Aufsehen zu erregen, wird die alte Frau in einer verschlossenen Truhe weggeschleppt. Man führt sie zum Gerichtsort Leonberg, wo endlich in größter Eile und Heimlichkeit die Endphase jenes Prozesses stattfinden soll, der schon mehr als sechs Jahre gedauert hat. Die Prozessakten aus dem Stuttgarter Staatsarchiv zeigen das düstere Bild einer Zeit, in der sich Aberglaube, Wahnsinn und menschliche Niedertracht zu einem fast unentwirrbaren Dickicht verflechten: Es ist von Giftmischerei, von verhexten Kühen und Schweinen, vom Totenschädel des Vaters, den sich die alte Frau hatte ausgraben lassen, um ihn als Trinkbecher zu benützen, und anderen Dingen dieser Art die Rede. Ein ganzes Jahr lang sollte dieser schändliche Prozess noch dauern. Ein Jahr lang kämpfte Kepler verbissen um das Leben seiner Mutter. Allein seinem Auftreten in diesem Prozess war es wohl zu verdanken, dass die hilflose, dem Schwachsinn nahe Alte dem sicheren Tod auf dem Scheiterhaufen entrissen wurde. Am 4. Oktober 1621 wurde sie aus der Haft entlassen, nachdem sie standhaft alle Leiden und Foltern ertragen hatte. Sie war jedoch bereits vom Tode gezeichnet: Im Frühjahr des folgenden Jahres starb sie, bis zum Ende ihres Lebens von den Einwohnern Leonbergs gefürchtet, gehasst und ständig mit Totschlag bedroht. Die damals 70-jährige Katharina Kepler hatte tatsächlich ungewöhnliche Wesenseigenschaften und merkwürdige Gewohnheiten, die durchaus im Sinne des Hexenaberglaubens missdeutet werden konnten. Kepler selbst hat in seiner Erzählung die hexenhaften Züge seiner Mutter in der Figur der alten Fiolxhilde festgehalten. Fiolxhilde ist in seiner Darstellung jene alte Frau, die in der Mitternachtssonne auf dem Gipfel des Berges Hekla auf Thule Kräuter sammelt und sie zu Hause unter mancherlei Zeremonien und Sprüchen zubereitet; sie ist auch diejenige, die sich mit Geistern über den Mond und seine Bewohner unterhält. Kepler hat diese Schilderung freilich erst nach dem Tode seiner Mutter aufgezeichnet. Zu ihren Lebzeiten hätte sie, wie er selbst in den Anmerkungen zu seiner Traumerzählung bemerkt (Kepler 1634, S. 30), als Bestätigung des allgemein verbreiteten, abergläubischen Verdachts gegolten. In seiner Erzählung verlegt Kepler die ganze Geschichte ins ferne Island und stellt sich selbst als den Sohn der alten Fiolxhilde Duracoto dar. Auch verwendet er für den Mond und die Erde andere Namen. Den Mond bezeichnet er mit dem hebräischen Namen „Levania“ und die Erde nennt er „Volva“, weil sie den Mondbewohnern in stetiger Umwälzung um ihre eigene Achse erscheint. Dementsprechend bezeichnet er die Bewohner auf der Vorderseite des Mondes als „Subvolvaner“ und die, welche auf der Rückseite des Mondes leben und niemals die Erde sehen können, als „Privolvaner“ (Kepler 1634, S. 14 f.).
Keplers Traumerzählung beginnt mit einer Reise zum Mond. Für die Geister, mit denen sich Fiolxhilde und Duracoto unterhalten, ist diese Reise keine gefährliche Angelegenheit. Der ganze Weg, so lang er auch ist, wird in der Zeit von höchstens vier Stunden zurückgelegt. Doch für einen Menschen, der manchmal von den Geistern auf diese Reise mitgenommen wird, ist sie mit großen Gefahren verbunden. Bei der Schilderung einer solchen Mondfahrt eines Menschen, der nicht fettleibig sein darf, sondern ausgemergelt und dürr sein muss, stechen vor allem die physikalischen und astronomischen Kenntnisse Keplers hervor: Er hat die richtige Vorstellung von der ungeheuren Kraft der Beschleunigung, die notwendig ist, um aus dem Schwerefeld der Erde zu gelangen; er weiß von der Kälte und der Schwerelosigkeit im Weltraum zu berichten; und selbst das Problem der weichen Landung auf der Mondoberfläche wird von ihm behandelt, wenn er die Geister über die Mondfahrt eines von ihnen auserwählten und begleiteten Menschen erzählen lässt: „Scharenweise stürzen wir uns auf den Auserwählten, unterstützen ihn und heben ihn geschwind empor. Diese Anfangsbewegung ist für ihn am schlimmsten, denn er wird gerade so emporgeschleudert, als wenn er, durch die Kraft des Pulvers in die Luft gesprengt, über Berge und Meere dahinflöge. Deshalb muss er zuvor mittels Opiaten betäubt und seine Glieder sorgfältig verwahrt sein, damit sie ihm nicht vom Leib gerissen werden, sondern vielmehr die Gewalt des Rückschlags auf die einzelnen Körperteile verteilt bleibt. Bald begegnen ihm neue Schwierigkeiten – ungeheure Kälte und Atemnot; gegen erstere schützt uns unsere angeborene Kraft, gegen letztere ein vor Nase und Mund gehaltener feuchter Schwamm. Wenn der erste Teil des Weges zurückgelegt ist, fällt uns die Reise leichter … Infolge der bei der Annäherung an unser Ziel unablässig zunehmenden Anziehung würden die Menschen aber durch den zu harten Aufprall auf dem Mond Schaden erleiden; deshalb eilen wir voran und schützen sie vor dieser Gefahr. Gewöhnlich klagen die Menschen, wenn sie aus der Betäubung erwachen, über große Mattigkeit in allen Gliedern, von der sie sich erst ganz allmählich wieder erholen können; schließlich sind sie wieder fähig zu gehen“ (Kepler 1634, S. 6 f.; dt. Übers. von Günther 1898, in: Kepler o. J., S. 60). Außer diesen Gefahren begegnen den Menschen, wenn sie auf den Mond gelandet sind, noch viele andere, die Kepler gar nicht aufzählen will. Vielmehr sind es ja die astronomischen Verhältnisse, die er am Beispiel des Mondes darstellen will. Und die von ihm aus zu beobachtenden Vorgänge am Himmel sollen ein Argument für die Bewegung der Erde liefern. Obgleich man auf dem Mond genau denselben Anblick des Fixsternhimmels hat wie hier auf der Erde, so gilt dort eine von der irdischen völlig abweichende Astronomie: Auf dem ganzen Mond gibt es, wie auch auf der Erde, den Wechsel zwischen Tag und Nacht. An den beiden Polen ist die Sonne zur Milderung der Nächte halb sichtbar, halb ist sie unter dem Horizont und läuft so im Kreis herum; ebenso wie für uns die Erde, so scheint auch der Mond für seine Bewohner stillzustehen, und die Sterne bewegen sich scheinbar im Kreis. Tag und Nacht zusammen dauern ungefähr so lange wie einer unserer Monate auf der Erde.
Die Unterschiede auf den beiden Halbkugeln des Mondes, die subvolvane und die privolvane, sind jedoch für ihre Bewohner sehr groß. Obwohl die Nacht der Subvolvaner 14 von den irdischen Tagen und Nächten dauert, erleuchtet doch die Volva (die Erde) die Länder und schützt sie vor Kälte. Denn eine solche Masse, ein solcher Glanz, kann nach Keplers Meinung der Wärmeausstrahlung unmöglich ermangeln – im Unterschied zum Mond, der für die Erdbewohner nur ein kaltes Licht verbreitet. Wenn auch der Tag bei den Subvolvanern 15 bis 16 irdische Tage und Nächte lang ist und während dieser Zeit unter der lästigen Gegenwart der Sonne leidet, so ist doch die Wirkung der Sonne nicht so gefährlich. Denn ihr Licht lockt alle Gewässer nach der von ihr beschienenen Halbkugel hin und diese überschwemmen die Ländermassen, sodass kaum noch eine Spitze von ihnen hervorragt, während die uns abgekehrte Hälfte von Dürre und Kälte geplagt wird, weil ihr alles Wasser entzogen ist. Wenn aber bei den Subvolvanern die Nacht sich herniedersenkt und bei den Privolvanern der Tag anbricht, so werden bei den Subvolvanern die Fluren frei von Wasser, bei den Privolvanern aber mildert die Nässe die Sonnenglut.
Obwohl der Mond nur einen ein Viertel so großen Umfang wie die Erde hat, weist er doch sehr hohe Berge und auch sehr tiefe und steile Täler auf. Stellenweise ist seine Oberfläche ganz porös und von Höhlen und Löchern überall gleichsam durchbohrt, hauptsächlich bei den Privolvanern; dies ist für sie auch zumeist ein Hilfsmittel, sich gegen Hitze und Kälte zu schützen. In einer Anmerkung erklärt Kepler, dass er die Porosität des Mondkörpers nicht deswegen annimmt, um auch diesen Raum mit entsprechenden Mondlebewesen zu bevölkern, sondern er hatte diese Vermutungen unter anderem aus den Bewegungen des Mondes entwickelt, die er bereits in seinem Werk „Astronomia Nova“ vom Jahre 1609 diskutiert hatte. Im nächsten Jahr erschien dann Galileis Sternenbote, der diese Vermutung durch außerordentlich deutliche Beobachtungen, die den Mond aufgrund der Vielzahl seiner Grotten mit einem Pfauenschwanz vergleichen lassen, bestätigt hat (Kepler 1634, S. 72).
Was der Mond hervorbringt oder was auf seiner Oberfläche einherschreitet, meint Kepler, muss ungeheuer groß sein. Das Wachstum geht sehr schnell vor sich. Alles lebt nur ein kurzes Leben, weil es sich zu einer so ungeheueren Körpermasse entwickelt. Dass die Körpermasse der Mondbewohner groß ist, schließt Kepler aus ihren Bauwerken, welche die unsrigen bei Weitem übertreffen. Diese sind so groß, dass sie noch aus 50 000 Meilen Entfernung erkennbar sind. Aus dieser Perspektive ist dann auch die Körpermasse der Mondbewohner abzuschätzen, die zwar ihren Bergen nicht vergleichbar, doch um vieles größer als die unsrige ist. Das hatte Kepler bereits in seiner Optik festgestellt, wo er allein aus einem Vergleich der Mondberge mit den unseren zu behaupten gewagt hatte: „Zu Recht hat Plutarch über den Mond gesagt, er sei wie die Erde, uneben und gebirgig; und im Verhältnis zum Umfang seiner Kugel seien seine Berge sogar größer als die der Erde im Verhältnis zu ihrer Kugel. Nun aber, damit wir auch nach Art des Plutarch scherzen: Wie es bei uns üblich geworden ist, dass Menschen und Tiere sich der Beschaffenheit ihres Landes oder ihrer Provinz angepasst haben mögen, so wird es demzufolge auf dem Mond lebendige Geschöpfe geben, die an Körpermasse viel größer und im Temperament viel fester sein werden als unsere“ (Kepler 1634, S. 94; Übers. vgl. Fetscher, J. und R. Stockhammer 1997, S. 86). Auf der Hinterseite des Mondes, bei den Privolvanern, gibt es keinen sicheren und festen Wohnsitz; „scharenweise durchqueren die Mondgeschöpfe während eines einzigen langen Tages ihre ganze Welt, indem sie teils zu Fuß, mit Beinen ausgerüstet, die länger sind als die der irdischen Kamele, teils mit Flügeln, teils zu Schiff den zurückweichenden Wassern folgen; wenn ein Aufenthalt von mehreren Tagen nötig ist, verkriechen sie sich in Höhlen, wie es jedem von Natur gegeben ist. Die meisten sind Taucher, alle sind von Natur sehr langsam atmende Geschöpfe und können also ihr Leben tief am Grund des Wassers zubringen, wobei sie die Natur durch Erfindungen noch verbessern. An den sehr tiefen Stellen der Gewässer soll ewige Kälte herrschen, während die oberen Schichten von der Sonne durchglüht werden. Was dann an der Oberfläche hängen bleibt, wird mittags von der Sonne gar gekocht und dient den herankommenden Scharen der Wanderer als Nahrung“ (Kepler 1634, S. 26; dt. Übers. von Günther 1898, in: Kepler o. J., S. 70). Im Allgemeinen kommt die subvolvane Halbkugel den irdischen Dörfern, Städten und Gärten, dagegen die privolvane den Feldern, Wäldern und Wüsten auf der Erde hier gleich. Diejenigen unter den Levaniern, die nicht unter Wasser leben können, weil ihnen das Atmen das wichtigste Bedürfnis ist, leiten heißes Wasser in einem engen Kanal zu ihren Höhlen, damit es auf dem langen Weg bis ins Innerste ihrer Schlupfwinkel allmählich abkühle. Dorthin ziehen sie sich während des größeren Teils des Tages zurück und benutzen jenes Wasser zum Trinken; wenn aber der Abend herankommt, gehen sie auf Beute aus.
Bei den Baumstämmen macht die Rinde, bei den Tieren das Fell, oder was sonst dessen Stelle vertritt, den größten Teil der Körpermasse aus; es ist schwammig und porös, und wenn eines der Geschöpfe von der Tageshitze überrascht worden ist, so wird die Haut an der Außenseite hart und angesengt und fällt, wenn der Abend kommt, ab. Alles, was der Boden hervorbringt – auf den Höhen der Berge naturgemäß sehr wenig –, entsteht und vergeht an einem und demselben Tag, wobei täglich Frisches nachwächst. Die schlangenartige Gestalt herrscht im Allgemeinen vor. Manchmal legen die Mondgeschöpfe sich mittags in die Sonne, gleichsam zu ihrem Vergnügen, jedoch nur in der nächsten Nähe ihrer Höhlen, damit sie sich schnell und sicher zurückziehen können. Einige sterben während der Tageshitze ab, aber während der Nacht leben sie wieder auf, umgekehrt wie bei uns die Fliegen. Weit und breit zerstreut liegen Massen von der Gestalt der Tannenzapfen umher, deren Schuppen tagsüber angesengt werden, die sich aber am Abend auseinanderfalten und Lebewesen hervorbringen. Das wichtigste Schutzmittel gegen die Hitze sind auf der erdzugewandten Hälfte die fortwährenden Wolken und Regengüsse, die sich manchmal über die ganze Hemisphäre erstrecken.
So weit kam Kepler in seinem Traum, als sich ein Wind erhob, begleitet von prasselndem Regen, der ihn aus dem Schlaf weckte, sodass er sich in der Wirklichkeit wiederfand, das Haupt ins Kissen gewühlt und den Leib in Decken gehüllt.