Читать книгу Es geschah aus Liebe - Ernst Meder - Страница 9
ОглавлениеDer erste Hinweis, dass sich ihre Trainingseinheit dem Ende näherte, war das Nachlassen der Konzentration sowie den vereinzelt auftretenden Verlust der Reaktion. Hier nun zeigte sich, dass sich die über Jahrzehnte angeeigneten Bewegungsabläufe auch bei Nachlassen der Aufmerksamkeit nichts an ihrer Präzision verloren.
Lukas und der Übungsleiter waren die Einzigen, die einigermaßen mithalten konnten. Wobei Lukas nie versucht hatte, die Grenzen seines Großvaters zu erproben, gestand sich insgeheim jedoch ein, dass er befürchtete, einem fast achtzigjährigen Greis nicht gewachsen zu sein.
Sein Großvater hatte ihm nie von seinem Leben in Japan berichtet, dies tat seine Mutter und auch erst dann, als sein Großvater um Akira trauerte und sich weitestgehend von der Familie zurückzog. Das heißt, von seiner Tochter und seinem Enkel, die er als seine Familie betrachtete, seinem Vater war er in tiefer Abneigung verbunden.
Warum sich die beiden hassten, darüber sprach niemand, auch übereinander sprachen die beiden nie. Es musste aber auf einen Zwischenfall zurückzuführen sein, an den er sich nicht erinnerte. Da seine Erinnerung bis zu seinem dritten Lebensjahr zurückreichte, musste der Beginn der Abneigung zwischen den beiden davor liegen.
Akira war immer höflich aber sehr zurückhaltend, sie ließ jedoch keinen Zweifel daran erkennen, auf wessen Seite sie stand und wen sie unterstützte. Nicht immer konnte ein Zusammentreffen vermieden werden aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei welchen ein Treffen unvermeidlich wurde, war die knisternde Spannung deutlich zu spüren.
Zwischen seinen Eltern gab es häufig Streit meist aus Nichtigkeiten oder weil sie ihn zurechtwies, wie er mit seinem Sohn umging. Er war so häufig Anlass für Streitigkeiten, dass er erwog, zu seinem Großvater und Akira umzuziehen.
Er konnte sich noch gut an eine Situation erinnern, als er fünf oder sechs Jahre alt war. Mit einem kleinen gepackten Koffer hatte er sich vor seinen Eltern aufgebaut, um ihnen mitzuteilen, dass er ab sofort zu Großvater ziehen würde damit sie nicht mehr streiten. Natürlich war dieser Versuch zum Scheitern verurteilt, führte jedoch dazu, dass die Streitigkeiten für eine gewisse Zeit aufhörten oder stattfanden, wenn er sich nicht in ihrer Nähe befand.
Diese enge Bindung zu seinem Großvater die ihn auch heute noch mehr denn je verband war nur in der Zeit der Trauer nicht so intensiv. Aber auch in jener Zeit war sie enger als je zu seinem Vater.
Seine Mutter hatte ihm die Geschichte seines Großvaters erzählt, damit er ihn besser verstand. Er war vierzehn oder fünfzehn befand sich selbst in einer aufsässigen Phase - heute würde er sagen ganz normale Pubertät - und verstand die Ablehnung seines Großvaters nicht.
Sein Großvater hatte sich seit seiner frühesten Jugend mit der japanischen Kultur sowie den Sitten und Gebräuchen dieses Landes auseinandergesetzt. Am meisten faszinierten ihn jedoch die Samurai, die sich einem Ehrenkodex unterwarfen, auch wenn er ihren Tod bedeutete.
Dieser Zauber, den er in den Verhaltensweisen zu entdecken glaubte, führte dazu, dass er begann, sich mit der japanischen Sprache und Schrift auseinanderzusetzen. Vielleicht war es aber auch der japanische Junge, der neu in seine Klasse kam und der später sein Freund wurde.
Das war der eigentliche Grund, wie seine Mutter glaubte. Diese Freundschaft hielt im Übrigen immer noch an, und dieser Freund lebte in Yokohama.
Lukas hatte ihn kennengelernt, als dieser es sich nicht nehmen ließ, den weiten Weg nach Deutschland zu unternehmen, um bei der Beerdigung von Akira dabei zu sein. Natürlich auch um seinen Freund nach vielen Jahren wieder einmal zu besuchen.
Der prägende Teil seines Lebens in Japan begann mit einer Ausschreibung des Wirtschaftsministeriums. Die Bewerbung auf diese Ausschreibung betraf eine Stelle in der Abteilung für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Botschaft in Japan. Die Zahl der Bewerber, die über erforderlichen Qualifikationen verfügten, war nicht sehr zahlreich.
Ausschlaggebend für seine positive Bewerbung waren seine ungewöhnlich umfangreichen Kenntnisse der japanischen Kultur, der Lebensweise sowie die hervorragenden Sprachkenntnisse.
Das Verständnis für die durch diese Kultur sehr stark geprägten Gesprächspartner führte bald zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit seinen japanischen Gesprächspartnern. Im Laufe dieser Zusammenarbeit entstanden Freundschaften, die ihn sein gesamtes Leben begleiten sollten.
Mit der Geburt seiner Tochter - meiner Mutter - wuchs die Bindung zu seiner inzwischen zweiten Heimat da die komplizierte Geburt ohne Komplikationen für Mutter und Tochter verliefen.
Als die Stelle des Botschafters in Japan vakant wurde und man ihm diese Stelle anbot, war dies die Bestätigung seiner bisherigen Arbeit. Beruflich hatte er seinen Zenit erreicht, er war in dem Land seiner Jugendträume und übte eine Tätigkeit aus die ihn befriedigte. Auch privat war er glücklich, seine Tochter liebte die Umgebung, in der sie aufwuchs und seine Frau teilte seine Leidenschaft.
Nicht verhindern konnte dies, dass seine Frau an Krebs erkrankte und zehn Monate später in Japan verstarb. Während dieser schwierigen Zeit, in der er zusammen mit seiner Frau gegen die bösartige Krankheit kämpfte, wurde ihnen der Arzt erst zu einem Ansprechpartner, später zu einem freundschaftlichen Unterstützer und am Ende zu einem Freund.
Er war es auch, der in der schwierigsten Phase als er begann den Überblick zu verlieren, sich darum kümmerte, dass seine Frau zu Hause angemessen betreut werden konnte. Sehr viel später wurde ihm bewusst, dass die Tochter des Onkologen die Pflege seiner Frau übernommen hatte und wie nebenbei seine Tochter umsorgte.
In dieser schwierigen Phase seines Lebens überredete ihn sein Freund, am Training japanischer Kampfkunst teilzunehmen. Es ging ihm vordringlich darum ihn aus der Lethargie zu befreien, in die er nach dem Tod seiner Frau gefallen war, und auch wieder am Leben seiner Tochter teilzunehmen.
Auch nach dem Tod seiner Frau blieb die Tochter seines Freundes in seinem Haushalt, um seiner Tochter den Halt zu geben, den sie mit dem Tod der Mutter verloren hatte. Mit der Zeit wuchsen die Bindungen zwischen Vater und Tochter sowie der Tochter und der Ersatzmutter die nur fünfzehn Jahre älter als die Tochter war und auch die große Schwester hätte sein können.
Da er nicht wusste, wie dieser reagierte - er war schließlich Europäer - argumentierte er damit, dass er die japanische Lebensweise aus historischer Sicht kennenlernen würde. Zudem könne es auch zu seiner körperlichen Ertüchtigung beitragen, davon würde seine Familie in diesem Fall seine Tochter profitieren.
Dass sein Großvater und Akira fünf Jahre später heirateten, wunderte nach einer gewissen Zeit niemand mehr. Sein langjähriger Freund und Sensei wurde mit dieser Hochzeit auch noch sein Schwiegervater.
Der Tod dieses Freundes war es, der die Rückkehr in die alte Heimat beschleunigte. Akira, die früher für seine Mutter Freundin Mutter und Nachhilfelehrerin war, rutschte nun in die Rolle der Schülerin, als sie die neue Sprache lernen musste. Dass seine Mutter in der Zeit der Rückkehr besser japanisch als die Sprache ihrer Vorfahren beherrschte, sorgte nicht selten für Verwirrungen, die erst sein Großvater lösen konnte.
Als seine Abberufung bevorstand und er als Botschafter nach Norwegen versetzt werden sollte, entschied er sich den diplomatischen Dienst zu verlassen, um als Repräsentant diverser Unternehmen in Japan tätig zu sein.
Als Vorteil erwies es sich, dass europäische Unternehmen den asiatischen Markt in Angriff nahmen und häufig scheiterten da sie die Einstellung und Lebensweise der japanischen Geschäftspartner nicht verstanden und an den verursachten Missverständnissen scheiterten.
Lukas blickte zu seinem Großvater, der sich gerade verbeugte, um das Training zu beenden. Auch das, was nun kam, glich den rituellen Handlungen der Übungen, allerdings auf andere Weise an einem anderen Ort. Sein Großvater lud ihn zum Mittagessen ein und stellte dann - wie jede Woche - die obligatorische Frage, ob er finanzielle Hilfe benötige. Und wie jeden Samstag lag nach dem Mittagessen ein Umschlag auf seiner Seite, in dem sich zehn Fünfzig-Euro-Scheine befanden.