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Vorgabe der Form
ОглавлениеTatsächlich wollen wir doch nicht die bloßen Stoffwechselvorgänge erklären, sondern erläutern, wie das Leben entstanden ist, was die Form des Lebens ist, was die Gestaltung des Lebens ist.
Die Frage ist, ob die Genetik schon die Entstehung der Form verstehen kann, die sie ja eigentlich verstehen möchte? Kann die Genetik das von der Physik lernen, weil die Genetik versucht, Physik zu sein?
Ich glaube, die Genetik kann das von der Physik lernen. Sie hat aber diese Chance noch nicht genutzt. Sie hat zwar von der Physik gelernt, dass man kausal Faktoren untersuchen kann, und dass man auf diese Weise ein durchgängig physikalisches Verständnis lebendig bekommt. Aber das Eigentliche des Lebens, die Schaffung der Form, ist eher noch nicht gelungen.
Die Frage lautet:
Hat die Physik, also die Atom-Theorie der Materie, dazu etwas beigetragen? Merkwürdigerweise, ja. Denn die moderne Atomphysik, die etwa in den 1920er Jahren ihren Anfang hat, beginnt mit der elementaren Einsicht von Werner Heisenberg, dass an dem berühmten Atommodell, das man damals hatte, nichts stimmte.
Laut diesem Modell gibt es einen Atomkern, um den sich die Elektronenbahnen förmlich bewegten. Das Atommodell ist heute noch in viele Schulbüchern zu sehen. Es wird in der Chemiestunde benutzt. Auch das Atomium in Brüssel zeigt das Atom so.
Man hat den Eindruck: Da ist ein Kern, um den sich die Elektronen auf Bahnen bewegen.
Aber Werner Heisenberg hat 1924 schon ganz klar gesagt, dass es die Bahnen des Elektrons nur dann gibt, wenn wir sie beschreiben. Wenn wir sie beobachten.
Mit anderen Worten, das Atom, das wir so darstellen ist nicht das Atom, das es in der Natur gibt, sondern das Atom, das wir der Natur vorschreiben.
Wir verstehen das Atom dadurch, dass wir ihm eine Form geben. Einstein hat Heisenberg assistiert, indem er sagte, physikalische Theorien sind freie Erfindungen des menschlichen Geistes.
Die Theorien müssen natürlich etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Wir können ja nicht irgendeinen Blödsinn erfinden. Ich kann auch in einem Gedicht nicht irgendeinen Satz erfinden oder in einem Roman eine blödsinnige Figur, sondern sie müssen schon irgendwie aus dem Leben, aus der Wirklichkeit kommen.
Jetzt passiert Folgendes: In dem Moment, in dem ich die Natur dadurch verstehe, dass ich sie entwerfe, bin ich gewissermaßen in einem großen Bildungsprozess gefangen. Denn natürlich bringt zunächst mal die Natur mich hervor und ich dann die Natur. Das heißt, ich bin die Bildung der Natur, die meine Bildung ist. Dieser Grundgedanke ist ganz wichtig. Ich bin die hervorgebrachte und die hervorbringende Natur. Ich stecke in diesem Kreislauf, in diesem Prozess drin. Ich schiebe mich gewissermaßen zwischen die Wissenschaft und Natur. Das ist genau das, was ich am Anfang gesagt habe: Naturwissenschaft ist der eigentliche Bildungsprozess, Bildung schlechthin.
Werner Heisenberg erkannte, dass die Erklärung der Welt in der kausalen Form allein gar nicht gelingen kann. Die Erklärung der Welt kann nur dadurch gelingen, dass ich zunächst eine Form vorgebe. Das nennt man in der Physik, den Zustand der Atome. Das muss in der Genetik noch erfunden werden.