Читать книгу Essen und Trinken im Mittelalter - Ernst Schubert - Страница 11
Gab es eine mittelalterliche Gesellschaft?
ОглавлениеDas verwandte Konzept, Werner Sombarts Theorie der „gerechten Nahrung“ – Der Reichtum an Deutungen einer angeblichen mittelalterlichen Gesellschaft – Feudalismus – „Ständische Gesellschaft“ – „Die drei Ordnungen“ – Die Armut als Signatur des Mittelalters – Der „gemeine Mann“, der Mittelpunkt der Ernährungs- und Gesellschaftsgeschichte – Gesellschaftsgeschichte, Mentalität und Ängste
Bevor an der Geschichte einzelner Lebensmittel die Beweise dafür ausgebreitet werden, daß das Entstehen der Gesellschaft mit der Ernährungsfrage eng zusammenhängt, sei auf einen alten Aufsatz verwiesen, der diesem Konzept sehr nahesteht: Werner Sombarts Theorie der gerechten Nahrung als Grundlage der spätmittelalterlichen Stadtwirtschaft.97 Werner Sombart wurde von seinen damaligen Kollegen arg gescholten, weil angeblich seiner Theorie keine Quellenbeweise zugrunde lägen. Das kann spätestens jetzt nachgeholt werden. Trotz aller Reglementierungen, mit denen die Ratsherrschaft das von den Zünften angestrebte Marktoligopol verhinderte, trotz aller noch zu schildernden Preisfixierungen achteten die Ratsherren doch darauf, daß den Handwerkern, den wichtigsten Steuerzahlern, genügend wirtschaftlicher Spielraum, eben die „gerechte Nahrung“ blieb.98
An Deutungen der mittelalterlichen Gesellschaft besteht kein Mangel. Als um 1700 das Mittelalter von Juristen erfunden wurde, galt es zunächst als Zeitalter des Faustrechts, um dann alsbald von aufgeklärten Theologen als Welt der finsteren Kirchenherrschaft |26|charakterisiert zu werden. An knalligen Verallgemeinerungen ist die Mediävistik seit jeher reich. Am langlebigsten wurde eine etwa um 1900 verbreitete, bis heute fortbestehende Charakteristik: Feudalismus. Ein Begriff, der Otto Hintzes fulminanten Aufsatz über die globale Verbreitung von Adelsherrschaft getragen hat, ist aus diesem, stets den historischen Kontext berücksichtigenden Zusammenhang längst zu jenem Schlagwort degeneriert, das in einer Wortgeschichte angelegt war, deren Wirkung Otto Hintze nicht aufhalten konnte. Feudalismus war um 1800 noch eindeutig, dem Wortverständnis entsprechend als Zusammenfassung aller Rechtsfolgen des Lehnswesens definiert, hundert Jahre später hingegen wurde er unter dem Einfluß der Studentensprache – „uns geht es so feudal“ – als Zusammenfassung adeligen Wohllebens verstanden.“99 Es schadete augenscheinlich dem Erfolg dieses Konzepts, daß sein zentrales Beweismittel, die lange zu didaktischen Zwecken instrumentalisierte sogenannte Lehnspyramide, von Hartmut Boockmann als grobschlächtige und verfälschende Vereinfachung entlarvt wurde.100
Nicht viel besser als mit dem Feudalisierungskonzept steht es mit dem Begriff der ständischen Gesellschaft. Diese ist vom Hof her definiert, stellt adelige Hierarchien fest und endet, bevor es um die Mehrheit der Bevölkerung geht. Der Hof ist produktiv, was die Erstellung von Urkunden angeht, und wo Urkunden sind, sind auch Historiker. Aber bildet diese sektorale Überlieferung die Wirklichkeit ab?
Der letzte Großversuch: die drei Ordnungen, Geistliche, Krieger, Bauern. Das berühmte Buch von Georges Duby führte an einem von mittelalterlichen Gelehrten entwickelten Modell sozialer Ordnung zwischen Sozial- und Mentalitätsgeschichte artistisch balancierende Deutungen vor.101 Dieses Ordnungsmodell des Mittelalters blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein in Gestalt von Wehrstand, Lehrstand und Nährstand virulent. Die Hoffnung, daß Duby bei dem Aufpolieren dieses alten Ordnungsmodells dessen Ungleichgewicht, die „laboratores“ als über 90 % der Bevölkerung umfassend, aufdecken und damit zumindest in die sachliche Nähe der Ernährungsgeschichte gelangen würde, verfliegt rasch. Der berühmte Gelehrte beschäftigte sich vor allem mit den „militares“ und „clerici“, also jenen beiden oberen, gleichermaßen vom Adel geprägten Ständen, um eine Gesellschaft des Mittelalters zu fingieren. Mit dem Ansatz, von einem mittelalterlichen Entwurf der scholastischen Lehre über die „societas humana“ auszugehen, steht er dem Versuch von Aaron J. Gurjewitsch nahe, der entsprechende Abstraktionen zu einem „Weltbild des mittelalterlichen Menschen“ zusammenfügte.102
All diesen Versuchen stellen wir einen bescheideneren Ansatz entgegen und beginnen mit einer schlichten Frage. Ist eine Gesellschaftsordnung bereits vorauszusetzen, bevor die existentiellen Probleme der Ernährung gelöst waren, oder sind es nicht gerade diese existentiellen Probleme, welche aus den universalgeschichtlich nachzuweisenden Primitivstrukturen von Arm und Reich, von Geistlichen und Laien, von Verwandten und Fremden Lebensordnungen erzwingen, die langfristig gesellschaftsbildend wirken? Was bleibt von der angeblich gesellschaftsbildenden Kraft der drei Ordnungen eigentlich |27|übrig, wenn alle Menschen, gleich welchen Standes, auf Salz und damit auf Produktion, Verkehr und Handel angewiesen waren?
Wollte man eine halbwegs treffende allgemeine Charakterisierung aller jener Jahrhunderte suchen, die der Bequemlichkeit halber das Mittelalter genannt werden, so bietet sich nur eine Möglichkeit an: Es ist eine Welt der Armut, deren einschränkende und normierende Bedingungen, einen inneren und einen äußeren Rand kennend, für die meisten Menschen gelten. Angesichts der Allgegenwart von Armut bröckelt die Sicherheit, von einer „Mittelschicht“ mit den Assoziationen einer sozialen Geborgenheit sprechen zu können. Wir dürfen die Faustformel Ulf Dirlmeiers übernehmen, wonach 50–60 % der Steuerzahler „als besitzlos oder in die Kategorie der kleinsten Vermögen eingeordnet“ werden müssen.103 Ohne Nahrungssorgen konnte nur eine kleine Oberschicht leben.
Wenn wir von armen Leuten sprechen, so wählen wir eine Definition, die alle Abstufungen von Armut umschließt: Wer keine Rücklagen für Zeiten der Erwerbslosigkeit, für Arbeitsunfähigkeit, für Not- und Teuerungszeiten anlegen kann, wer also „von der Hand in den Mund lebt“, ist – so sah es bereits Thomas von Aquin –104 arm. Wir folgen deshalb einer nicht von (fiktiv gesetzten) ökonomischen Kriterien,105 sondern von den alltäglichen Lebensumständen abgeleiteten Armutsdefinition, wie sie Ulf Dirlmeier, gestützt auf Aussagen der Regensburger Chronisten, vorgeschlagen hat: Armut bedeutet die „Unfähigkeit, eine über den unmittelbaren Tagesbedarf hinausgehende Ausgabe bar zu bezahlen“.106 „Leben von der Hand in den Mund“ als Definition von Armut. Jede Hungersnot, ja auch jede größere Teuerung, die noch im 15. Jahrhundert mit erschreckender Regelmäßigkeit im Abstand von sieben bis dreizehn Jahren eintritt, legt die verborgenen Armutsstrukturen erbarmungslos bloß.
Zur Klarstellung: Ich verabsolutiere nicht den Aufschluß, den für die Gesellschaftsgeschichte die Ernährungsgeschichte bietet. Adel und Oberschicht der Freien, wie sie im Frühmittelalter bereits als gestaltende soziale Kräfte hervortreten, werden auch weiterhin bestimmend bleiben. Bei allen bisherigen Gesamtdeutungen der mittelalterlichen Welt wird die Gesellschaft „von oben“ beschrieben. Bei allen weiterführenden Interpretationen: Welche Rolle spielt dabei der gemeine Mann, seine Arbeit, seine Ernährung? Und weiter: Kann ohne die Beantwortung der grundlegenden Fragen nach den von der Natur vorgegebenen Möglichkeiten der Ernährung die Leistung mittelalterliche Menschen, ihre Arbeit und ihr Überlebenswille überhaupt gewürdigt werden?
Ein Vornehmer wird seltener Haferbrei gegessen haben als der gemeine Mann.107 Klar. Aber wessen Nahrung ist für allgemeine Aussagen wichtiger? Im Mittelpunkt unserer Darstellung wird also der gemeine Mann stehen. Wer war der „gemeine Mann“, wie er in volkssprachlichen Quellen des späten Mittelalters immer wieder, oft synonym mit „armer Mann“, genannt wird?108 Die Quellensprache nimmt die gleiche Zuflucht zu einem allgemeinen Begriff wie in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als „Otto Normalverbraucher“ erfunden wurde. Eine Eindeutigkeit im soziologischen Sinne eignet weder dem mittelalterlichen noch dem neuzeitlichen Ausdruck, wohl aber eine Verständlichkeit |28|bei den Zeitgenossen. Beiden Begriffen liegt zugrunde, was ein deutscher Staatsmann in seinen Bundestagsreden mit „die Bürger draußen im Lande“ verklärte: politische Einflußlosigkeit. „Armer Mann“ meint im Mittelalter zunächst denjenigen, der im Gegensatz zu dem „Reichen“ keine politische Partizipation kannte, aber dennoch entsprechend der üblichen Urkundenformel „wir Bürger reich und arm“ zur Stadtgemeinde gehörte. Wie „Otto Normalverbraucher“ ist er von der Armut bedroht, damals noch viel stärker als in der Neuzeit.
Indem ich die zugegebenermaßen blasse Gestalt des „gemeinen Mannes“ einführe, um der Frage der Allgemeingültigkeit der zu ermittelnden Fakten näherzukommen, kann ich mich auf einen der größten Gelehrten des Mittelalters stützen. Wenn Albertus Magnus die Heilwirkung bestimmter Küchenkräuter nachzuweisen sucht, dann beruft er sich auf die einfachen Leute („rustici“), auf die allgemein im Volk verbreiteten Vorstellungen, die „opinio vulgaris“.109 Der gemeine Mann ist der Adressat der frühneuzeitlichen Literatur der „artes“, der „Fachbücher“,110 etwa des Arzneibüchleins von Johann Tallat von Vochenberg, das, erstmals 1497 gedruckt, bis 1532 mindestens 19 weitere Auflagen erlebte.111 Den gemeinen Mann sieht das Werk von Hieronymus Brunschwigk als Leser: „Thesaurus Pauperum. Ein fürtreflich und volkomne Hausapothek gemeyner gebreuchlicher Artzney“, Frankfurt 1539. An den gemeinen Mann wenden sich um 1475 ein Holzschnitt, der alle zum Haushalt gehörenden Geräte aufführt,112 1525 ein Einblattdruck, „Lied von dem Hausrat gut, der gehört zu der Armut“,113 ein Lied, dessen Tradition bis in die Zeit um 1300 zurückreicht.114 Behandelt wird die Frage, was ein Mann unbedingt an Hausrat besitzen müsse, bevor er überhaupt ans Heiraten denken könne.
Die allmähliche Annäherung selbst der Fachliteratur des Spätmittelalters an den gemeinen Mann belegt ein Innsbrucker Kochbuch aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es löst sich ansatzweise von Rezepten, die nur für die Oberschicht von Interesse sein konnten. Im Vergleich zu anderen Kochbüchern hat es den geringsten Anteil an teuren Fleisch- und Fischgerichten und geht wesentlich vorsichtiger mit der Empfehlung von kostspieligen Gewürzen um.115 Aber der Weg zu einem Kochbuch für den gemeinen Mann ist noch sehr weit.
Keine Gesellschaftsgeschichte kann ohne die Schilderung der Rahmenbedingungen von Mentalitäten auskommen. Ängste gehören zu den wichtigsten mentalitätsbildenden Faktoren.116 Noch nicht einmal Mongolen und Türken haben so große kollektive Ängste ausgelöst wie Ernährungskrisen. Kometen gelten als Vorboten schlimmer Zeiten; vor allem zeigen sie nach Meinung der Zeit Hungersnöte an.117
Hunger und Mentalitäten – ein Märchen der Brüder Grimm: Eine Mutter war mit ihren Töchtern in so große Armut geraten, daß kein Bissen Brot mehr im Hause war. „Wie nun der Hunger bei ihnen so groß war, daß die Mutter ganz außer sich und in Verzweifelung geriet, sprach sie zu der Ältesten: ‚Ich muß dich tödten, damit ich was zu essen habe.‘“ Die Tochter verspricht: „Ich will… sehen, daß ich etwas zu essen kriege ohne Bettelei.“ Das Stück Brot, das sie mitbrachte, konnte keinen Hunger stillen. |29|Die Mutter drohte jetzt der zweiten Tochter, die ebenso handelte wie ihre Schwester; aber auch die zwei Stücke Brot, die sie heimbrachte, konnten nichts helfen. Die Mutter drohte erneut mit dem Tod. „Darauf antworteten sie: ‚Liebe Mutter, wir wollen uns niederlegen und schlafen, und nicht eher wieder aufstehen, als bis der jüngste Tag kommt.‘ Da legten sie sich hin und schliefen einen tiefen Schlaf, aus dem sie niemand erwecken konnte, die Mutter aber ist weggekommen und weiß kein Mensch, wo sie geblieben ist.“118
Wissenschaftliche Kritik hat, zutreffenderweise, in der modernen Erzählforschung die Edition der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm auf sich gezogen. Viele der hier gesammelten Erzählungen sind keine Volksmärchen, wie „Der gestiefelte Kater“. Andere beruhen auf weit verbreiteten Motiven der Wandererzählungen. Das alles trifft auf unsere Erzählung nicht zu. Es ehrt die Grimms, daß sie diese Geschichte, die auf keinen der typischen Märchenschlüsse hinführt, in ihre Sammlung aufgenommen haben; sie bildet eine Geschichtsquelle singulärer Art, erzählt in ihrer Grundform von dem, was schon frühmittelalterliche Chronisten erschrocken vom Kannibalismus bei Hungersnöten berichtet haben.119 Ob zutreffend oder nicht: diese Chronisten zeigen ebenso wie das Märchen das tiefe Entsetzen über das, was Hungersnöte für Folgen haben – die Auflösung aller menschlichen Bindungen. Die davon ausgelösten Ängste blieben selbst dann noch bestehen, als die schlimmsten Folgen dieser Nöte durch zivilisatorische Fortschritte abgewendet werden konnten. Wie sich neuzeitliche Überlagerungen in die Erzählung von alten Ängsten mischen können, zeigen die Worte der ältesten Tochter: „Ich will … sehen, daß ich etwas zu essen kriege ohne Bettelei.“ Die Bettelverbote der frühen Neuzeit erweisen hier ihre mentalitätsprägende Wirkung.120 In mittelalterlicher Zeit hätte man über die Einschränkung „ohne Bettelei“ nur den Kopf geschüttelt. Diese Einschränkung läßt auch das Märchen in sich widersprüchlich erscheinen. Existentielle Hungerfurcht und gesellschaftskonformes Verhalten passen nicht zusammen. Aber gerade dieser Widerspruch zeigt, wie lange die Angst vor existentiell gefährlichen Notjahren noch nachzitterte.
Das Märchen offenbart ein Trauma der vorindustriellen Welt: Der Hunger zerstört menschliche Bindungen und Ordnungen. Vor dem Hunger gibt es kein Entrinnen. Bei Feuersbrünsten und Überflutungen hatte der arme Mann eine Chance zur Flucht, beim Hunger nicht. Das Märchen sagt etwas über die Ängste aus, über die kollektive Angst: „Hungersnot geht über alle andere Not.“121