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Essen und Trinken als Zugang zur Gesellschaftsgeschichte? Die drei epochalen Wandlungen des Mittelalters

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Die in die Alltagsgeschichte integrierte Rechtsgeschichte – Die Fronhofsverfassung und ihre Auflösung – Nachbarschaft und Allmende – Die Verdorfung des hohen Mittelalters – Eigenverantwortliches bäuerliches Wirtschaften aus der Sicht der Küche – „… der dritte das Brot“: Landesausbau und Ostsiedlung als Teil der Ernährungsgeschichte – „Freiheit“, „Eigenschaft“ und „zweite Leibeigenschaft“ – Ernährungsgeschichte als Schlüssel spätmittelalterlicher Urbanisierung

|17|Alltagsgeschichte. „Schon wieder? Noch immer?“42 Treffend faßt Helmut Hundsbichler wissenschaftliche Ermüdungs- und Enttäuschungsprozesse zusammen, die sich einstellen, wenn ein zunächst begrüßtes Forschungskonzept nicht sofort die erhofften umwerfenden Ergebnisse zutage fördert. Das Anliegen, die Forschungsrichtungen integrierende Aufgabe der Alltagsgeschichte nachzuweisen, hat die relativ gut datierbaren Realien von Eß- und Trinkgeschirr ebenso in die Darstellung einzubeziehen wie den Wandel der Agrarverfassung im Übergang vom frühen zum hohen Mittelalter. Die Aufgabe, im Spiegel der Nahrung auch die Rechtsgeschichte in die Alltagsgeschichte zu integrieren, setzt zeitlich die Auflösung der Villikationsverfassung voraus, die Verdorfung,43 die Entwicklung von Hörigen zu Bauern, kurzum den neuen, allerdings unscharfen Begriff des gemeinen Mannes.44

Die frühmittelalterliche Fronhofsorganisation, die Villikationsverfassung nach wissenschaftlicher Terminologie, war ein um Herrenhöfe zentriertes Wirtschaftssystem.45 Der Herr, der König, der Hochadelige, der Bischof oder der Abt, besaß zumeist viele oder zumindest mehrere solcher weitverstreut liegenden Höfe. Die oft besprochene Auflösung oder Umformung dieser Verfassung46 war ein Vorgang von großer Tragweite, aber auch von beträchtlichen regionalen und sogar lokalen Unterschieden in seinen Abläufen.47 Teilweise sind die Auflösungserscheinungen schon im 10. Jahrhundert zu erkennen, teilweise konnten – weswegen auch von „Umformung“ zu sprechen war – die alten Hofverbände bis in die spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen bäuerlichen Weistümer hinein ihre Spuren hinterlassen. Im großen und ganzen stimmt jedoch der Forschungskonsens von einem Wandel der frühmittelalterlichen Fronhofsorganisation zu einer hochmittelalterlichen „Grundherrschaft“, einer teils auf bäuerliche Abgaben, teils auf Eigenwirtschaft gegründeten Adelsherrschaft.48 Ergebnis war, daß den Herren nur noch ein Obereigentum am Boden verblieb, der von eigenverantwortlichen Bauern bearbeitet wurde, die den Herren zu Abgaben verpflichtet waren.49 In der Spannweite des „eigenverantwortlich“ liegt die Formenvielfalt bäuerlicher Abhängigkeiten beschlossen. Pachtverhältnisse (um den etwas klareren modernen Ausdruck zu gebrauchen) bzw. „Leiheverhältnisse“50 waren an die Stelle herrschaftlichen Gebots getreten.

Auflösung der Fronhofsverfassung und Verdorfung bilden Avers- und Reversseite einer Medaille. Ein aufschlußreicher Fall: Ein bedeutender elsässischer Weinort wird erstmals 774 in den „Weissenburger Traditionen“ als Scalchenbiunda urkundlich erwähnt.51 „Schalcke“ sind die Knechte, „biunda“ bezeichnet das umzäunte Gebiet.52 Die Entwicklung des Ortsnamens spiegelt die Auflösung der Fronhofsverfassung wider, denn der Ort heißt seit dem hohen Mittelalter: Schalkendorf. Nicht mehr der eingezäunte Sondernutzungsbereich („biunda“), sondern die bäuerliche Gemeinschaft („dorf“) bestimmt den Namen.

„Biunda“ entsprach dem frühmittelalterlichen, dem als Ortsnamenssuffix so häufig belegten „-garten“, erinnert, etwa bei Weingarten, an Sondernutzungsbereiche einer ausgedehnten Fronhofsorganisation.53 Nach der Ausbildung des Dorfes aber wird ein |18|zumeist hinter den Hofstätten gelegener, von der Dreifelderwirtschaft ausgenommener eingezäunter Individualbesitz so bezeichnet.54

Die Fronhofsorganisation war, wie eindrücklich durch das karolingerzeitliche „Capitulare de villis“ bezeugt, auf die Hofhaltung der Herren bezogen. Nur sauber zubereitetete Nahrungsmittel, so dieses Capitulare, durften auf den Tisch des Herrn kommen. Wie aber stand es mit der Ernährung jener Menschen, die, ohne selbst für ihre Versorgung arbeiten zu können, die aufwendigen Arbeiten etwa in den Weingärten zu erledigen hatten? Das Versorgungsprinzip für den Tisch des Herrn schuf ein Versorgungsproblem für die abhängigen Arbeiter. Schon allein die vom Fernhandel abhängige Salzversorgung zwang alle grundherrschaftlichen Organisationen zu einer Marktorientierung.55 Hierin sehen wir den Keim der Auflösung der Fronhofsverfassung, welche aus sich heraus die Ernährung der abhängigen Menschen auf Dauer nicht sicherstellen konnte. Dem Bevölkerungswachstum war sie nicht gewachsen.

Die wichtigste, die kulturlandschaftlich bedeutendste Folge der Auflösung alter Fronhofsverbände ist die Entwicklung des Bauernhofes als Mittelpunkt eines nunmehr eigenständig wirtschaftenden Betriebs. Deswegen sind so viele frühmittelalterliche volkssprachliche Bezeichnungen für Gebäude und Gebäudeteile im Hochmittelalter bereits ausgestorben,56 weil neue Begriffe für den neuen Typ des Bauernhauses gebraucht wurden. Damit hängt zusammen: die Verdorfung, die genossenschaftliche Verbindung der Bauern des hohen Mittelalters.57 Die Einwände, daß es schon im frühen Mittelalter größere dorfartige Siedlungen gegeben habe, seien nicht bestritten. Nur: Der vorherrschende Siedlungstyp ist die Streusiedlung in Einzelhöfen und Weilern.58 Für die Ausnahmen sei das Adjektiv „dorfanalog“ gebraucht und dabei an die treffende Formulierung Karl Siegfried Baders gedacht: „Ein bloßes Nebeneinander von Höfen macht noch kein Dorf.“59 Dörfer konnten erst entstehen, als nicht mehr das Gebot des Herrn, sondern die gemeinsame Arbeit von Dorfgenossen und damit die Gemeinschaft der Bauern, die das Dorf erst konstituiert, über die Gestaltung der Fluren entschied. Die Fruchtfolge von Winterfeld, Sommerfeld und Brache, die hochmittelalterliche Dreifelderwirtschaft,60 setzte nicht mehr Herrschaft, sondern Nachbarschaft voraus. Eine Dorfgenossenschaft mußte sich einigen, welches Getreide auf dem Sommer- oder Winterfeld gesät, wie die Brache besömmert werden sollte.61

Für die Entstehung von Dörfern im hohen Mittelalter war entscheidend: die Allmende.62 Den Begriff „bonum commune“, den gemeinen Nutz, einen Schlüsselbegriff der scholastischen Gesellschaftslehre, hätten selbst einfache Bauern sehr gut verstanden, wenn er ihnen übersetzt worden wäre; denn als gemeiner Nutz erschien ihnen konkret die Allmende, die gemeinsame Nutzung von Weide und Wald durch alle Dorfgenossen.63 Allmende und Gemeinde hängen sprachlich und sachlich zusammen. Darin liegt eine zukunftsweisende Bedeutung, die stets übersehen wird, wenn allein aus neuzeitlichen Entwicklungen die Geschichte der Demokratie abgeleitet werden soll. Um es zu überspitzen: Wer sich nicht darüber informiert hat, was eine Allmende ist, kann sich alles weitere Nachdenken über die Voraussetzungen der Demokratie ersparen.

|19|Auflösung oder Umformung der Villikationsverfassung sind keine Gegensätze. Das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von genossenschaftlichen und herrschaftlichen Interessen wurde jeweils auf unterschiedlichen Wegen gefunden. Friedenssicherung war das oberste Ziel. Ob Auflösung, ob Umformung – durchsetzen sollten die Bauern, was seit dem 12. Jahrhundert als ihr Ziel erkennbar ist, das Recht, ihren Besitz ohne Einsprüche der Herrschaft vererben zu können. Das verstanden sie unter „libertas“.64 Dieser Prozeß, der zur verbreitetsten Leiheform, der „freien Erbleihe“, führt, bei welcher dem Herrn nur ein mit Abgaben verbundenes Obereigentum verblieb, widerspricht den populären Vorstellungen von der mittelalterlichen Leibeigenschaft; diese „Eigenschaft“, wie sie in den Quellen benannt wurde, enthielt keine absolute Verfügungsgewalt des Herrn, und sie war noch nicht so weit verbreitet wie vielfach angenommen. Sie bildete ein Bündel genau bestimmter Rechte, von denen das „Besthaupt“ am schwersten zu ertragen war, die Abgabe des besten Stück Viehs im Stall nach dem Tode eines Bauern. Es war die verhaßteste Folge der „Eigenschaft“, wie noch der Bauernkrieg beweisen sollte. Und das heißt: Nicht abstrakt um das Erbrecht, sondern konkret um die ausreichende Nahrung für die Nachkommen ist es den Bauern im Hochmittelalter gegangen.

Die Ernährungsgeschichte läßt die Auflösung der Villikationsverfassung in ihren Voraussetzungen und Folgen besser verstehen. Eine Kulturpflanze zum Beispiel wird zur Gewinnerin dieser tiefen Veränderung: die Erbse.65 Sie wird im „Capitulare de villis“ nur nebenbei als maurische Erbse erwähnt, denn zur Fronhofsverfassung mit ihren Sonderkulturen gehörte sie noch nicht, aber sie wird auf dem Speisezettel des gemeinen Mannes im späteren Mittelalter nicht mehr fehlen.66 Die Bauern entdeckten, daß auf dem Brachfeld der Dreifelderwirtschaft Hülsenfrüchte angebaut werden konnten.

Auflösung oder Umformung der Fronhofsorganisation. Dieser epochale Wandel spiegelt sich in der allgemeinen Geschichte und in der des Alltags, spiegelt sich in großen, längst bekannten und in kleinen, wenig beachteten Vorgängen. Zunächst zu den leisen, gleichwohl folgenreichen Veränderungen. Wenn die Versorgung nicht mehr von einem Fronhof gewährleistet wird, müssen individuelles Kochen und einfache, für den Bauern erschwingliche Küchengeräte sich verbreiten. Auch so selbstverständliche Begriffe wie Küche und Kochen haben ihre wechselvolle Geschichte. Erst mit der Auflösung der Fronhofsverfassung wird die Küche seines Hofes für den gemeinen Mann zum zentralen Ort seiner Ernährung, Konsequenz des Zwanges zum selbständigen Wirtschaften. Viel von dem seltenen und teuren Eisen braucht selbst eine einfache Kochstelle: Kessel, Topf, Kesselhaken, Feuergabel, Bratspieß.67 Das werden sich in diesem Umfang zunächst nur die wenigsten Bauern haben leisten können, aber unerläßlich war der Besitz des „helen“ oder „hal“,68 des an einer Kette hängenden Kessels, der, je nachdem ob man ihn höher oder niedriger hing, die Regulierung der Wärmezufuhr erlaubte. Von Nord bis Süd setzt sich im 13. Jahrhundert der Grapen durch, der „Dreifuß“, ein Topf, der über das Feuer gestellt werden kann. Er repräsentiert die wenigen Küchengeräte, die sich der Bauer lange Zeit nur leisten kann.69 Noch in Nachlaßinventaren des 16. Jahrhunderts ist das Küchengerät bescheiden.70

|20|Der Zwang zum selbständigen Wirtschaften bestimmt die Entwicklung des Herdes.71 Vom offenen Herdfeuer hängt ab, was auf den Tisch kommen kann.72 Bei den einfachen Leuten handelt es sich dabei bis an die Schwelle des Spätmittelalters um bodenebene Einfassungen der Feuerstelle zumeist aus gestampftem Lehm, seltener aus Steinen, mit einem geringen Durchmesser, der von 30 cm bis – ausnahmsweise – 2 m reichen kann. Wichtigster Bestandteil ist dabei die eiserne Feuerplatte.73 Steinerner Mauersockel und eiserne Feuerplatte sind eher burgenspezifisch. Aber selbst auf Burgen erfüllt die Feuerstelle lange die Funktion gleichermaßen von Herd und Ofen. Selbst in den spätmittelalterlichen Bürgerhäusern des deutschen Nordens steht der Herd auf der Diele, dem Mittelpunkt des Hauses; erst die aus Oberdeutschland im Verlauf des späten Mittelalters einwandernde Stube wird allmählich Herd und neuen Kachelofen als Bestandteil der Wohnkultur trennen.74 Deswegen bleibt der Begriff „Küche“ dem Niederdeutschen lange fremd und verbreitet sich erst im 16. Jahrhundert.75 Denn in der frühen Neuzeit wurde die Küche zum separaten, vom Wohnbereich getrennten Raum.

Von den stillen zu den spektakulären Veränderungen. Hand in Hand mit der Auflösung der Villikationsverfassung gehen Landesausbau und Ostkolonisation im hohen |21|Mittelalter.76 Daß diese Vorgänge aus der Überbevölkerung und der zu knappen Nahrungsdecke abzuleiten sind, ist ein Gemeinplatz der Forschung. Was aber ist konkret damit für die Ernährungsgeschichte verbunden? Aus der Moorkolonisation des 18. Jahrhunderts stammt das bittere Resümee des Kolonistenschicksals: „Der erste den Tod, der zweite die Not, der Dritte das Brot.“ Der Landesausbau schafft nicht von Anfang an ausreichende Nahrungsgrundlagen. Nach dem Roden der Wälder ist das Land noch längst nicht urbar, dazu bedarf es generationenlanger harter Arbeit. Die Stümpfe der gefällten Bäume mit ihrem dichten Wurzelwerk mußten mühsam mit einem Hakenpflug, der die Scholle nicht wenden konnte, umgangen werden. Auf solchen Flächen war anfangs noch nicht einmal der normale Ertrag des „dritten Korns“, des Dreifachen der Aussaat, zu erhalten. Hinter dem hochmittelalterlichen Landesausbau und seiner Entsprechung, der Ostsiedlung, standen die gleichen brutalen Zwänge. Die Generationenfolge, die dieses Sprichwort voraussetzt, beruht auf Erbrecht; und das Recht, ihren Besitz zu vererben, hatten die Bauern des 12. Jahrhunderts als den Inhalt der zu gewinnenden „libertas“, der Freiheit, verstanden. Ohne deren Gewährung hätten sie sich nie auf Kolonistenarbeit und Kolonistennot eingelassen.


Gemauerter Herd auf Burg Reifenstein in Südtirol, 15. Jh.

Das Thema der sogenannten Leibeigenschaft verklammert nur scheinbar unser erstes Thema, das der Umformung der Agrarverfassung in den Altsiedellandschaften, mit der Ostsiedlung. In den großen Freiheitsrechten, die den Siedlern gewährt werden mußten, war für eine Eigenschaft gleich welcher Form kein Platz mehr. Was in dem später sogenannten Ostelbien entstehen sollte, beruhte auf einem erst allmählich im 15. Jahrhundert einsetzenden Vorgang, dessen Ergebnis die marxistische Forschung aus Gründen terminologischer Klarheit zutreffend als „zweite Leibeigenschaft“ bezeichnet hat.77

Das Bemühen, über die Geschichte des Essens und Trinkens Aufschlüsse über das Entstehen der Gesellschaft zu gewinnen, bewährt sich auch bei dem dritten epochalen Vorgang der mittelalterlichen Geschichte.78 Der gängige Ansatz der stadtgeschichtlichen Forschung geht von verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen aus. Die Ergebnisse laufen darauf hinaus, daß keine Stadt der anderen gleicht. Die Ernährungsfrage aber lehrt die allgemeinen Grundfragen, deren Lösung einer jeden Kommune auferlegt war, zu erkennen und die spätmittelalterliche Stadt als konsensualistisches Kunstwerk zu verstehen. Der Frieden innerhalb der Stadtmauern mußte gesichert werden, obwohl eine Bürgergemeinde eine Ansammlung sozialer Konfliktherde auf engstem Raum darstellte. Der Rat, aus der Oberschicht rekrutiert, hatte den allen Bürgern einsichtigen gemeinen Nutz zu wahren. Zwischen freier Marktwirtschaft und Planwirtschaft sind seine dirigistischen Maßnahmen anzusiedeln,79 mit denen er bemüht sein mußte, eine ausreichende und möglichst preiswerte Ernährung aller zu sichern, um die vielen sozialen Konfliktherde nicht zum Kochen zu bringen. Die Geschichte des Brotes oder des Fleisches, aber auch die des Weines und des Bieres wird dieses leitende Prinzip der Ratsherrschaft, das, was eigentlich „Obrigkeit“ in den spätmittelalterlichen Städten ausmacht,80 anschaulich und damit das Allgemeine hinter dem Individuellen einer jeden Stadtverfassung deutlich werden lassen.

Essen und Trinken im Mittelalter

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