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„Stufen der Ernährung“ oder Geschichte der einzelnen Nahrungsmittel?

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Verbesserungen der Ernährungssituation, eine linear zu beschreibende Fortschrittsgeschichte? – Relative Chronologie – Die Geschichte der wichtigsten Lebensmittel im einzelnen als Voraussetzung für eine Ernährungsgeschichte

Der große Historiker Wilhelm Abel hat den Versuch unternommen, auf knappem Raum eine epochale Abfolge der Geschichte des Essens und Trinkens zu skizzieren, der er den Titel „Stufen der Ernährung“ gab.36 Mit scheinbar unangreifbaren ökonomischen Daten distanzierte er sich von einer Kulturgeschichtsschreibung, wie sie seit der Zeit um 1900 in der Absicht entwickelt worden war, die allgemeine Geschichte illustrierend zu begleiten. Dabei hielt er aber bei allen wegweisenden neuen Überlegungen an der Überzeugung seiner Vorgänger fest, daß es auch in der Ernährung allgemeine, logisch fortschreitende Entwicklungen gegeben habe. Die seitdem erschienenen Darstellungen von Montanari und Hirschfelder,37 denen ich wesentliche Anregungen und Informationen im Detail verdanke, sind diesem Konzept des Fortschrittsgedankens gefolgt.

Wilhelm Abels konzis geschriebenes kleines Buch, in dem er sein „opus magnum“ über die Hungerkrisen im vorindustriellen Europa aus anderer Perspektive indirekt zusammenfaßte,38 bewundere ich schon deshalb, weil mir nie eine vergleichbare knappe Darstellung gelungen ist. Aber statt von „Stufen der Ernährung“ gehe ich von einem Wandel sozialer Ordnungen aus, der zu einem wesentlichen Teil unter dem Druck der Alltagsbedürmisse des Essens und Trinkens erfolgte. Unstrittig ist dabei, daß sich die Ernährungssituation im Laufe der Zeiten verbessert, ja daß es einen Fortschritt gegeben hat; aber es sind stets einzelne Bedingungen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten verändert und erst in ihrer Summe jene Verbesserungen bewirkt haben, die im Mittelalter nie die Bevölkerung insgesamt, sondern immer nur einzelne wirtschaftliche Segmente betrafen. Der Wein zum Beispiel hat eine andere Geschichte als das Bier. Beide Getränke aber geben unterschiedliche Antworten auf eine gemeinsame Frage, nämlich was man denn im Mittelalter trinken konnte. Die unterschiedliche Geschichte beider Getränke wird erweisen, daß man nicht von „Stufen der Ernährung“, sondern von Verflechtungen unterschiedlicher Entwicklungsstränge ausgehen sollte.

Nach meiner festen Überzeugung kann eine Ernährungsgeschichte nicht geschrieben werden, wenn sie, von der Verfügbarkeit aller Nahrungsmittel ausgehend, ein Gesamttableau des Essens und Trinkens zu entwerfen und einen Entwicklungsablauf zu konstruieren versucht. Das hatte übrigens auch Wilhelm Abel nicht anders gesehen und |16|sich stets auf die allerdings als exemplarisch unterstellte Geschichte einzelner Produkte gestützt. Mit dem Gedanken der relativen Chronologie versuche ich den Fortschrittsgedanken aus der Geschichte der wichtigsten Nahrungsmittel zu differenzieren. Das Adjektiv „relativ“ bezieht sich nicht allein auf die verschiedenen sozialen Gruppen,39 sondern auch auf das vielgestaltige wirtschaftliche Profil deutscher Lande. Der Ostseehering beispielsweise war zwar schon um 1200 im deutschen Norden ein Volksnahrungsmittel, aber es währte noch etwa hundert Jahre, bis er selbst auf süddeutschen Märkten ein Massengut wurde.

Die relative Chronologie betrifft auch die scheinbar eindeutig datierbare Geschichte der Bücher, deren Bedeutung im Spätmittelalter, was Tischzuchten und Kochbücher betrifft, nicht unterschätzt werden sollte. Die Reichweite dieser Texte gelangt zunächst kaum über die Oberschicht hinaus und die relative Chronologie betrifft weiterhin neben der Wirkungs- auch die Entstehungsgeschichte dieser Texte. Der am Anfang aller Tischzuchten stehende „Phagifetus“, eine im Umkreis französischer Hofkultur entstandene Schrift des 12. Jahrhunderts, wird erst 1490 von Sebastian Brant ins Deutsche übersetzt40 – eine grundsätzliche Erscheinung des frühen Buchdrucks. 1310 hatte Arnald von Villanova seinen „Liber de vinis“ König Robert von Neapel gewidmet. 1478 wurde dieses Werk in der Verdeutschung von Wilhelm von Hirnkofen gedruckt.41 Der „Phagifetus“ oder der „Liber de vinis“ mochten alt sein, für die deutschen Leser des ausgehenden 15. Jahrhunderts waren sie neu. Die Übersetzungen belegen weiterhin im Falle des „Phagifetus“: Was einst für den engen Bereich des Hofes und der Burgen geschrieben worden war, gilt jetzt als verbindlich auch für die städtische Welt; und im Falle des Arnald von Villanova erweist sich: Alte Ratschläge können über die Zeiten hinweg von bleibendem Interesse sein. Relative Chronologie.

Natürlich steht das Urteil über mein Verfahren, die Geschichte der Ernährung über die Geschichte der einzelnen Nahrungsmittel zu verfolgen, allein dem Leser zu. Die Gründe, die mich zu dieser Vorentscheidung veranlaßten, enthalten zugleich das Versprechen, Aufschlüsse über drei epochale Vorgänge zu bieten, die das vereinfacht so benannte Mittelalter gestalten sollten.

Essen und Trinken im Mittelalter

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