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|39|Der Hunger – die Geißel Gottes und die Antwort der Kirche

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Hunger als Strafe Gottes – Die Antwort karolingischer Synoden auf den Getreidewucher – Die Haltung „der Kirche“? St. Georgen und Petershausen als gegensätzliche Beispiele

Gott, so begründet 828 Ludwig der Fromme die Notwendigkeit einer Kirchenreform, sei so durch die Sünden der Menschen erzürnt worden, daß er sie strafe. Jedermann begreife das doch. Dauernder Hunger („fames continua“), Viehsterben und Seuchen seien die Strafe des Herrn.52 Bis in die frühe Neuzeit lebt diese Auffassung weiter.53 Deswegen konnte es auch keinen Hungerheiligen geben. Wie soll denn der Heilige etwas gegen Gottes Strafe ausrichten? Immerhin kann man gegen die Qualen des knurrenden Magens die hl. Agathe anrufen. Deren Festtag liegt mitten in der Fastenzeit am 5. Februar.

1005/06 findet sich der Dortmunder Totenbund zusammen, in dem sich Kaiser, sächsischer Herzog und sächsische Bischöfe verbinden und große Armenspenden versprechen. Erschüttert sind die Herren von der großen Hungersnot. Sie sehen darin im Bewußtsein ihrer Sünden eine Strafe Gottes und fürchten jetzt um ihr eigenes Seelenheil. Es geht ihnen nicht um Hilfe für die Armen, es geht ihnen darum, Gott durch besonders reiche Almosen wieder gnädig zu stimmen.54

Hunger als Strafe Gottes – das leuchtete Menschen unmittelbar ein, die wußten, wie sehr sie von der Natur abhängig waren. Sie wußten aber auch, daß Eigennutz der Großen die Krisen noch verschärfte. Hungerzeiten sind zugleich Zeiten der Getreidespekulation.55 Karolingische Synoden versuchten, mit Geboten dem Getreidewucher zu steuern.56 Das Konzil zu Paris 829 konkretisierte das Problem mit eindringlicher Anschaulichkeit: „Da kommt ein Armer zur Zeit des Hungers, ohnehin durch die Not in allem geschwächt, zu einem Wucherer, gleich wie ein Bruder zum Bruder, die doch beide das kostbare Blut Christi erlöst hat, und bittet, ihm das zu leihen, was er zur Linderung seiner Not brauche. Der Wucherer antwortet: ‚Ich habe kein Getreide oder sonstige Dinge … zum Verleihen, sondern eher zum Verkaufen.‘“ Und jetzt wird ein typisches Wuchergeschäft geschildert, das mit den Worten schließt: „So kommt es, daß sie für einen solchermaßen verliehenen Scheffel Getreide zur Zeit der Ernte drei oder gar vier gewaltsam aus den Armen herauspressen.“57 Solche Wucherer nennen die geistlichen Chronisten nicht beim Namen, aber jeder weiß, wo sie vor allem zu finden sind: in der Kirche selbst. Der in karolingischer Zeit durchgesetzte Getreidezehnt war damals noch allein eine Abgabe an die Kirche und gelangte erst durch die Ausnutzung des Eigenkirchenrechts später auch in die Hände des weltlichen Adels. In den kirchlichen Zehntscheuern waren die selbst in Notzeiten anfallenden Getreideabgaben gesammelt.

Selbst im Reich Karls des Großen kannte man keine Mittel, den Ernährungskrisen wenigstens zu steuern. Hilflos wirken die Versuche von Höchstpreisordnungen in den Jahren 794 und 80558 angesichts der Bemühungen von Synoden, den Getreidewucher wenigstens der Geistlichkeit zu unterbinden. Diese Preisordnungen verzichten bezeichnenderweise |40|auf die Androhung von Strafen. Auffallend ist weiterhin, daß in einem Reich, in dem der grandiose Gedanke einer Wasserstraße vom Main zur Donau entwickelt werden konnte, jeder Versuch fehlt, vorbeugend Getreidemagazine anzulegen, wofür man doch im Alten Testament Vorbilder finden konnte. Das läßt tief blicken. Der Durchstich vom Main zur Donau scheiterte an der Versorgung jener Vielzahl von Menschen, die für diesen Kanalbau nötig waren. Die noch erhaltenen Reste dieses „Karlsgrabens“ erweisen gleichermaßen Kraft und Schwäche des karohngischen Reiches; die Menschen brachte man zusammen, ernähren aber konnte man sie auf Dauer nicht.59 Hungersnöte, Kraft und Schwäche des karohngischen Reiches: In Reaktion auf die Hungersnot von 792/93 wurde in Frankfurt ein allgemeines Scheffelmaß festgelegt. Das konnte zwar künftige Ernährungskrisen nicht verhindern, aber die Normierung gelang. Die Scheffelmaße des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa sind Ableitungen aus der Frankfurter Ordnung.60

Schwäche: Die karohngischen Synoden konnten keine Tradition in der Verdammung des Getreidewuchers schaffen. Wie denn auch? Geizige und erbarmende Geistliche gehören gleichermaßen zur Kirchengeschichte.61 Im Jahre 1099 wollten die Mönche von St. Georgen im Schwarzwald auswandern, weil sie in der allgemeinen Not alles den Armen gegeben hatten. Auch andere Klöster hatten sich – Nachwirkungen nicht zuletzt der gorzischen Reform – so christlich verhalten.62 Zu Anfang des 12. Jahrhunderts finden wir weiterhin in Deutschland eine Vielzahl von bedeutenden Bischöfen, die sich am Kirchengut vergriffen und versuchten, den Hunger ihres Volkes zu lindern. Sie kauften Getreide in der Ferne, um es an die Untertanen weiterzureichen. Dem Beispiel der frommen Mönche von St. Georgen stellen wir ein anderes Beispiel aus Petershausen entgegen: 1146 waren viele Menschen aus Not gezwungen, sich als Leibeigene dem Kloster zu übergeben (Autotradition nach wissenschaftlicher Terminologie). Der Chronist findet nichts dabei, daß der Abt in vielen Fällen von dieser Selbstpreisgabe von Freiheit nichts wissen will, weil das Kloster in den betreffenden Gegenden keine wirtschaftlichen Interessen hat.63 Wo die Mönche von St. Georgen selbstlos halfen, wogen die von Petershausen Vor- und Nachteile für ihr Kloster ab. Und dieser Gegensatz ist über die Zeiten zu verfolgen. Als rühmenswerte Ausnahme notiert die Magdeburger Schöppenchronik, daß die Zisterzienser zu Riddagshausen inmitten der europaweiten Hungersnot 1316 täglich bis zu 400 Menschen Brot reichten.64

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