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Die Hungersnöte als Auflösung menschlicher Ordnungen
ОглавлениеKannibalismus? Hungerfolgen – Die verzweifelte Flucht vor dem Hunger
In den frühmittelalterlichen Bußbüchern ist immer wieder vom Diebstahl aus Hunger zu lesen.42 Die Hoffnung, mit der Auswertung dieser Bußbücher sich der Realität zu nähern, verfliegt rasch. Diese Bücher sind weltfremd. Sie bilden eine Frühform der fiktionalen Literatur. Wenn Hunger nur zum Diebstahl geführt hätte, wäre dies noch vergleichsweise harmlos gewesen. Der Hunger als existentielle Herausforderung zwingt Menschen zu Verzweiflungstaten, zwingt sie sogar, ihre Freiheit aufzugeben, um sich in die Knechtschaft zu verkaufen. Das schildert schon Gregor von Tours zum Notjahr 585,43 das ist in karolingischer Zeit ebenso bezeugt.44
Erzwingt der Hunger sogar Menschenfresserei?45 In den Quellen wird davon zu den |38|Jahren 793, 868, 869, 896 und dann erst wieder 1005 und 1032 (durch Raoul Glaber) berichtet.46 1233 sollen in Livland und 1241/42 in Ungarn Menschen gegessen worden sein wie ebenfalls 1277 in der Steiermark und 1280/82 in Böhmen. Die späteren Nachrichten aber stammen von Chronisten, die weit entfernt vom Ort der Geschehnisse lebten. So berichten die Colmarer Annalen, daß 1278 in Kärnten die Einwohner während einer Hungersnot Menschenfleisch gegessen hätten.47 Was hier zitiert wird, ist der Topos der Widernatürlichkeit. Es handelt sich aber nicht um ein gelehrtes Zitat, sondern um den jeweils aufs neue begegnenden Versuch – die Quellen schreiben nicht voneinander ab –, die Erschütterung über die Folgen dieser Notzeiten konkretisierend zusammenzufassen. Das Gemeinsame ist stets die Erfahrung, zu welchen Handlungen der Hunger die Menschen treiben kann. Der Topos der Widernatürlichkeit weist insofern auf reale Erfahrungen zurück, als sämtliche soziale Bindungen durch den heißen Hunger aufgelöst werden.
Zum Jahre 1099 berichtet der Zwiefaltener Chronist von den Folgen einer Hungersnot. Ungefähr 50 Menschen müssen in einer Grube begraben werden, eine Mutter wird so sehr von Verzweiflung gepeinigt, daß sie mit einem giftigen Kraut ihr Kind umbringt, um dessen Leiden abzukürzen. Der Abt des Klosters, geistlicher und weltlicher Herr dieser Frau, reagiert als Hirte. Er versucht der Mutter zu helfen. Er nimmt sie auf und läßt sie pflegen, aber sie ist so schwach und kann nicht mehr. „Aber ach! Die durch tagelanges Hungern Entkräftete konnte niemand mehr dem Tode entreißen.“48 Kein Wort des Tadels, kein Herumfuchteln mit Normen. Jedermann weiß, was Hunger bewirken kann.
Bei Hungersnöten hat selbst die Heimat keinen Wert mehr. Die hungernden Menschen fliehen dahin, wo sie Brot erhoffen. Flodoard berichtet, daß der ganze Konvent von Montfaucon mit den Gebeinen seines Heiligen das Kloster verließ und sich in Wesseling zwischen Bonn und Köln, wo das Kloster eine „villa“ besaß, niederließ.49 Die Erzählung informiert uns unter anderem, weswegen die frühmittelalterliche Grundherrschaft so weit, oft über Hunderte von Kilometern hinweg gestreut war. Ernährungsengpässe in einer Region können durch Erträge aus anderen Gebieten ausgeglichen werden. (Es handelt sich um das gleiche Prinzip wie bei der Risikostreuung heutiger Aktienfonds.) Der Bericht von der Auswanderung der Mönche aus Montfaucon wirft ein Streiflicht auf einen Vorgang von großer Bedeutung, auf die Hungermobilität des frühen und noch des hohen Mittelalters. Menschen verließen Haus und Hof in der Hoffnung, in der Fremde etwas zu essen zu bekommen.50 Das steht auch hinter der Kreuzzugsbewegung, wie damals schon Ekkehard von Aura erkannte. „Fames“ und „mortalitas“ hätten die Franzosen so sehr heimgesucht, daß sie, in Gottes Namen, bereit waren, ins Heilige Land zu ziehen.51 Es ist kein Zufall der Gleichzeitigkeit, wenn Binnenkolonisation und Kreuzzüge Ereignisse jenes 12. Jahrhunderts sind, das wir als das Jahrhundert der Hungerkrisen charakterisiert haben. Die Herren mochten von den Predigten Bernhards von Clairvaux bewegt worden sein, ihre Gefolgschaft aber auch von der Geißel des Hungers, der zu entfliehen sie ebenso in die Fremde führte wie jene Bauern, die damals aus den Mosellanden nach Siebenbürgen zogen.