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|34|„Fames et mortalitas“ – die Hungersnöte des frühen und hohen Mittelalters
ОглавлениеDie dichte Quellenüberlieferung – Allgemeine und regionale Hungersnöte – Die Notzeiten des 12. Jahrhunderts – Der „heiße Hunger“ und seine Opfer – Hungerkrisen und Ergotismus
Bereits 1901 hat Fritz Curschmann in einer klassisch gewordenen Studie die früh- und hochmittelalterlichen Hungersnöte, die überregionalen Charakter hatten, quellennah untersucht und in einer Liste zusammengestellt,8 die seitdem nur wenige Ergänzungen erfahren hat. Allgemeine Hungersnöte gab es demzufolge seit karolingischer Zeit bis zum Hochmittelalter in den Jahren: 779/80, 792/93,9 805–809,10 843,11 868,12 873/74, 941, 1005/6, 1031, 1043–45, 1095,13 1099–1101, 1124–26, 1145–47, 1150/51,14 1161/1162,15 1195–98,16 1225/26.
Hunger und Sterblichkeit hängen im Frühmittelalter eng zusammen. Das bezeugen die Chronisten. „Fames et mortalitas“ sind für die Zeitgenossen untrennbare Begriffe.17 Die Auflistung der großen europäischen Hungerszeiten bis 1225/26 läßt erkennen, daß diese mindestens zwei Jahre währen. Denn die vom Hunger gepeinigten Menschen vergreifen sich an dem Saatgetreide, so daß ein verregneter Sommer zwei Notjahre nach sich zieht. Langfristige Folgen haben diese Zeiten. Besonders wegen des Mangels an Protein und Vitamin A bleiben die Menschen anfällig für Infektionskrankheiten. Vor allem die Kinder leiden an den Spätfolgen, die nicht zuletzt das Wachstum betreffen.18
In der Welt des 9. bis 12. Jahrhunderts, in der selbst größte politische Aktionen bestenfalls in drei voneinander unabhängigen Quellen überliefert sind, erregen Hungersnöte ein wesentlich stärkeres Berichtsinteresse. 16 Nachrichten liegen über die große europäische Hungerkatastrophe von 1043–45 vor. Ekkehard von Aura berichtet 1095 von einer Hungersnot in Frankreich, womit er eine solche im heutigen belgischen Raum meint.19 Diese Not hat Ekkehards Lebensraum nicht erreicht, aber der Chronist weiß, was für eine schreckliche Realität hinter solchen Nachrichten aus fernen Gegenden steht.
Diese Überlieferung verdichtet sich in der Folgezeit, so daß 39 voneinander unabhängige Quellen von der Hungersnot 1195–98 berichten. Ob allgemeine, ob regionale Ernährungskrisen: das 12. Jahrhundert ist das Jahrhundert mittelalterlicher Hungersnöte schlechthin. Es beruht nicht auf der Zufälligkeit der Überlieferung, daß dieses Jahrhundert zugleich die hohe Zeit der Binnenkolonisation ist.
Den allgemeinen Hungerszeiten sind die regionalen zur Seite zu stellen wie zum Beispiel die, von der 993 die Hildesheimer Annalen berichten.20 Die einzelne Nachricht scheint wenig zu besagen. Eine Andeutung aber von dem Schock für die Betroffenen gibt Walahfrid Strabos Inschrift bei der Reichenauer Münsterweihe 816. Nicht nur der Demut vor Gott, nicht nur dem Dienst für die Zukunft, sondern auch der Not in der Gegenwart wird gedacht: Geweiht wurde dieses Gotteshaus in Zeiten großer Armut und Not, zu Zeiten, als Hunger hier und Krankheiten dort die Menschen bedrängten.21
|35|In Ansätzen entwickelt sich im 13. Jahrhundert eine die Tradition von Klosterannalen erweiternde landesgeschichtliche, zumeist dynastisch orientierte Geschichtsschreibung, die regionale Ernährungskrisen genauer erfaßt. 1259 wird Bayern von einer Hungersnot, die durch Quellenbelege von Freising bis Salzburg gut bezeugt ist, heimgesucht; nördlich der Donau aber spürt man nur eine Teuerung.22 1272/73 herrscht in Friesland eine furchtbare Hungersnot,23 von der in anderen deutschen Landen nichts zu bemerken ist.
„Heißhunger“ ist ein noch heute gebräuchlicher Ausdruck. Aber das, was heute eine individuelle Befindlichkeit kennzeichnet, ist die Verdünnung einer kollektiven Erfahrung im Mittelalter. Der „heiße Hunger“ ist eine brutale Lehre der Natur. Das zweite der gemeinfriesischen Landrechte erlaubt ausnahmsweise den Verkauf des Erbes eines vaterlosen Kindes durch seine Vormünder mit einer Wendung, die wir in unserer Überschrift zitierten: „Wenn schlimme Jahre kommen und der heiße Hunger durch das Land fährt und das Kind Hungers sterben würde“.24
Der „heiße Hunger“ schließt, so das friesische Landrecht, die Todesgefahr ein. Dieser Zusammenhang von Hunger und Tod, von „fames“ und „mortalitas“, ist den Chronisten bis in das Hochmittelalter hinein selbstverständlich. Genauere Zahlen brauchen sie dafür nicht anzugeben. Viele Menschen starben, berichtet zum Beispiel die Chronik von Petershausen zum Jahre 1126.25 Wenn konkrete Zahlen überliefert sind, dann dienen diese den Chronisten nicht dazu, das Ausmaß der Not zu belegen. Solche Belege waren angesichts der allgemeinen Erfahrung überflüssig. Wenn zum Jahre 868 aus Sens berichtet wird, daß 56 Menschen an einem Tage gestorben seien,26 dann liegt der Nachrichtenwert in dem Hinweis, wie schwer es gewesen sein mußte, so vielen geistlichen Trost und ein christliches Begräbnis zu gewähren.
Hungerzeiten prägen sich den Menschen als die furchtbarsten aller Erfahrungen ein. Wenn für früh- und hochmittelalterliche Chronisten „fames“ und „mortalitas“ einen unauflösbaren Zusammenhang darstellen, dann meinen sie nicht nur das Verhungern von Menschen. Der Alltag kann noch grausamer sein. Die erste Folge von Notzeiten ist nicht das Verhungern, sondern die Vergiftung durch ungeeignete Nahrung. Die häufigste Erscheinung ist dabei das Antoniusfeuer, der Ergotismus.27 Es handelt sich um Folgen einer Getreidevergiftung, die erstmals zum Jahre 857 in den Xantener Annalen erwähnt wird.28 Eine Schilderung dieser Krankheit überliefert Hugo Farsitus aus dem Jahr 943 in der Stadt Limoges.29 Wenn man das Brot anschnitt, floß die Krume schwarz heraus. Mutterkornbrand. Meilenweit ist das fürchterliche Schreien („horrendissimus ululatus“) der Erkrankten zu hören: „Feuer, ich verbrenne.“ Solche Qualen entziehen sich der Schilderung. „Es war ein unsichtbares Feuer“, so der Chronist, „welches das Fleisch von den Knochen trennte und auffraß.“ Wenn Hugo Farsitus mit seinen stilistischen Mitteln die Not der Menschen zu erfassen versucht, dann sind es nur Fetzen einer grausigen Wahrnehmung. Einer dieser Fetzen ist überaus aufschlußreich, läßt das ganze Ausmaß der Erschütterung erkennen: Mit unerträglicher Kreuzesqual („cum intolerabili cruciatu“) gehen die Menschen zugrunde. Sie hatten das Höchste an |36|Qual, das, was auch Christus durchzustehen hatte, zu erleiden. Nur eine subjektive Einschätzung? Fast zweihundert Jahre später schildert Ekkehard von Aura als Massenerscheinung den Ergotismus bei der Hungersnot von 1099. Gekreuzigt („cruciatum“) seien die von dieser Krankheit Gemarterten.30 Aus solchen Erfahrungen erklärt sich, |37|warum der Ergotismus nicht nur nach dem Schutzheiligen, dem hl. Antonius,31 „Antoniusfeuer“, sondern auch „heilige Krankheit“, „ignis sacer“, heißen kann.
Diese österreichische Bibelparaphrase von 1448 zeigt anschaulich die Auswirkungen einer Hungersnot. Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2774, fol. 143r.
Erst um 1600 scheint es gelungen zu sein, die Ursachen dieser furchtbaren Krankheit zu ermitteln.32 Der Mutterkornpilz in der Roggen-, bisweilen auch in der Weizenähre,33 ein Schlauchpilz,34 erzeugt schwarze, süß schmeckende Körner, die zwei Gifte enthalten, deren eines Gliederverdrehungen erzeugt (ergotismus convulsivus) und das andere die Glieder abfaulen läßt (ergotismus grangraenosus).35 In Teuerungs- und vor allem in Hungerzeiten nahm der Ergotismus bis zu den Notjahren 1770/7136 deswegen größere Ausmaße an,37 weil die Vergiftung des Mutterkorns, das Ergotoxin, bei längerer Lagerung des Getreides zurückgeht, in Notzeiten hingegen die Menschen sofort den frisch geernteten Roggen verzehren.38
Der Mutterkornbrand konnte auch in normalen Zeiten auftreten. So berichtet Thietmar von Merseburg von dem Entsetzen der Schnitter, die abends aus einem frischen Brot Blut laufen sahen und dies für ein unheilverkündendes Vorzeichen ansahen – zu ihrem Glück aßen sie deshalb dieses Brot, das die typischen Merkmale der Getreidevergiftung aufwies, nicht.39 Selbst wenn man in Hungerszeiten weiß, wie gefährlich ein solches Brot ist, wird es gegessen, weil die Eingeweide so sehr schmerzen, daß alle Warnungen überhört werden.
Antoniusfeuer: Zu Ausgang des 11. Jahrhunderts war aus einer Laienbruderschaft der Antoniterorden entstanden,40 der sich vor allem der am Ergotismus Leidenden annahm, der aber auch – ein Hinweis, wie diese Krankheit sozial eingeschätzt wurde – als Orden verstanden wurde, dessen Leistungen den Armen zugute kommen sollten, denjenigen, die als erste und am heftigsten unter den Hungersnöten zu leiden hatten. In vielen Städten liefen die Antoniusschweine, gekennzeichnet mit dem Antoniuskreuz, frei umher, die zugunsten der Armen geschlachtet wurden.41