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Die neuen spätmittelalterlichen Zusammenhänge: Hunger und Teuerung
ОглавлениеSpätmittelalterliche Veränderungen – Notnahrung – Spätfolgen von Nahrungsmangel
Die Hungersnot von 1225/26, während der die heilige Elisabeth von Thüringen alle Kornvorräte ihres Mannes an die Armen verteilt, ist die letzte der großen hochmittelalterlichen |41|Hungersnöte vor der Katastrophe der Jahre 1314–1319. In der Zwischenzeit von fast 90 Jahren gab es keine allgemeine europäische Ernährungskrise mehr. Die Hungerjahre zwischen 1314 und 1319 mit einer Klimax von 1315 bis 1317 werden zu einem Schock für die Zeitgenossen. Zeugnisse von der Ostsee bis zu den Alpen berichten davon.65 Historische Merkverse halten die Erinnerung an dieses Ereignis wach.66 Die frühmittelalterlichen Erfahrungen, Massensterben durch Verhungern, werden erneut gemacht. Erschütterung verbirgt sich hinter den nüchternen Worten der Magdeburger Schöppenchronik, „dat vele lude von hunger mosten sterven“.67
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„Du soldt den hungring speysen“. Diese Tafel des Flügelaltars des Meisters S.H. von 1485 zeigt die Werke der Barmherzigkeit. Schloßmuseum Linz.
Auch seit dem Spätmittelalter treten regionale Hungersnöte auf,68 zum Beispiel am Niederrhein 1460, 1482 und 1557,69 und viele Fehden zogen Ernährungskrisen im lokalen Umfeld nach sich.70 Aber große allgemeine Ernährungskrisen sind jetzt seltener geworden, begegnen noch einmal 1437/38 fast europaweit.71 Ihnen folgen in der Neuzeit Teuerungen in den 1570er Jahren,72 die extremen Notjahre 1585/90,73 1770/7174 und 1817/18.75
Mit der Überschrift dieses Kapitels wurde ein säkularer Wandel in der Geschichte der Ernährung angedeutet. Der Zusammenhang von Hunger und Sterblichkeit, der für die Chronisten des frühen und hohen Mittelalters von bedrückender Konsequenz gewesen war, steht ihren spätmittelalterlichen Nachfolgern längst nicht mehr so unmittelbar vor Augen. Sie sehen vielmehr einen anderen Zusammenhang: „fames et caristia“ – Hunger und Teuerung. Selbst den Anfang der großen europäischen Hungersnot des Spätmittelalters hatten die Annalen des Klosters Windberg im Jahre 1315 als Teuerung beschrieben: So groß war die Not, daß ein Scheffel Weizen fünf Pfund und 60 Regensburger Pfennige kostete.76
Vom Zusammenhang zwischen Hunger und Sterben zu demjenigen von Hunger und Teuerung: die Hungermobilität des frühen Mittelalters kehrt sich um, denn jetzt kommt das Brot zu den Menschen, der Mensch flieht nicht mehr zum Brot. Die intensivierten Handelsbeziehungen wirken sich mildernd aus. Den Fernhandel hatte es schon im Frühmittelalter gegeben, wobei die Flüsse für den Getreidetransport genutzt wurden.77 Aber Wasser- und Landstraßen waren inzwischen zu einem Verkehrsnetz verbunden worden, das fast ein halbes Jahrtausend gehalten hat.78 Jedoch schon die Transportkosten verteuerten das Getreide derart, daß bei den kleinen Leuten, deren Arbeitskraft in Zeiten von Mißernten wenig gefragt war, im besten Falle „Schmalhans Küchenmeister“ war. Der Landtransport verdoppelte – so die Faustregel – bei 100 Meilen Entfernung den Preis.79 Weil die Fernhandelswege inzwischen ein eingespieltes System bildeten, war es zum Beispiel im 15. Jahrhundert möglich, die Bergleute, die zu den schnell wachsenden Bergstädten wie Schneeberg und Annaberg strebten, zu versorgen.80 Ein Getreidehandel über größere Entfernungen hinweg81 hatte sich in einem Maße eingespielt, daß etwa das Elsaß und der Sundgau in der Milchprodukte herstellenden Schweiz als „gemeiner Eydgenossenschaft Kornkasten“ bezeichnet werden können.82
Am spektakulärsten wirkte sich der Getreidehandel im europäischen Norden aus, wo er eine Domäne der Hanse wurde.83 Diese sorgte für den Ausgleich zwischen Überschuß |43|und Bedarfsregionen, also zwischen den Agrarlandschaften Mecklenburgs, Pommerns84, des mittleren Elberaums und des Baltikums und dem dünn besiedelten, auf Fischfang ausgerichteten Norwegen beziehungsweise Flandern, dem städtereichsten Gebiet Nordeuropas, für dessen Versorgung Getreide aus dem Baltikum unverzichtbar werden sollte.85 Manche Städte profitierten besonders von dieser hansischen Mittlerfunktion, Stettin etwa als Ausfuhrhafen für Roggen und Gerste, Reval, von wo der hochgeschätzte livländische rauchgetrocknete Roggen exportiert wurde,86 vor allem aber Danzig, der Getreideausfuhrhafen schlechthin an der Ostsee, dessen Bevölkerung sich zwischen 1380 und 1415 nahezu verdoppelte. Danzig galt als das „Kornhaus der Hanse“.87
Das unmittelbare Massensterben als Folge der Not ist seit dem Spätmittelalter nicht mehr überliefert. Neben dem Handel wirken sich weiterhin die Folgen des Landesausbaus aus. Dennoch: Hungersnöte sind nur zu mildern, zu begrenzen, aber nicht zu überwinden. Daß Menschen direkt verhungern, ist selten, wenn auch nach den Hungerszeiten wie etwa 1770/71 die Mortalitätsrate steil ansteigt,88 weil die alten Menschen zu geschwächt sind, um sich von Krankheiten zu erholen. Hier erscheint ein bis heute bedrängendes globales Problem; weniger in der unmittelbaren Sterblichkeit89 als in den Spätfolgen der Anfälligkeit für Krankheiten liegt das Verheerende der Hungerkatastrophen.90 Besonders Kinder sind die Leidtragenden,91 was scheinbar temporäre Ernährungskrisen als Generationenproblem entlarvt. Den Ergotismus allerdings gibt es als Massenseuche bis in das 18. Jahrhundert.92 Nach wie vor galt: „Hungersnot geht über alle Not.“93 Menschen waren gezwungen, Hunde, Katzen und gefallenes Vieh zu essen. Sie bereiteten eine Art Sauerkraut aus Ahornlaub zu und kochten Sauerampfersuppen.94 Die Hungerszeit von 1770/71 prägte sich den Zeitgenossen als die Zeit ein, „da wir wie das Vieh das Gras auf dem Felde vor Hunger zu reißen genötigt waren“.95 Viele Arme waren damals gezwungen, Gras und Nesseln zu kochen. Das alles sind Erscheinungen, wie sie schon im Mittelalter begegnen. Gerade die Subsistenzwirtschaft erweist sich bei Hungerkrisen als besonders anfällig.96 Die Geschichte der Notnahrung in Hungerzeiten – die Wurzeln des Farns werden zermahlen, Eicheln verzehrt97 – offenbart tiefe Verzweiflung.98 Bei allen Wandlungen galt nach wie vor das Sprichwort: „Der hungir ist ein scharfs schwert.“99
Ebenso wie der unmittelbare Zusammenhang von „fames et mortalitas“ im Spätmittelalter aufgelöst ist, gibt es auch keine Autotraditionen aus Hunger mehr. Aber: Zum Jahre 1438, einem Hungerjahr, vermerkt ein oberrheinischer Chronist, daß auf den Straßen Knechte „sich wunden vor Hunger“. Sie wollten „allein um die Kost“ dienen.100 Preisgabe des sozialen Status, Preisgabe aller eigenen Rechte; denn, was die hungernden Knechte, nur um ihr täglich Brot zu bekommen, versprachen, war, wie es im Mittelalter hieß, „auf Gnade dienen“. Das bedeutete, wie das Goslarer Stadtrecht klarstellte, die völlige Abhängigkeit von der Hausherrschaft ohne jeden Rechtsanspruch.101 „Wer auf Gnaden dient ohne Unterscheid, muß sich mit dem begnügen, was man ihm beut“, sagt das Sprichwort.102
|44|Wenn trotz wachsender Bevölkerung die katastrophalsten Folgen von Hungersnöten seit dem Spätmittelalter wesentlich seltener eintreten, so liegt das an Ergebnissen menschlicher Arbeit, an Kulturfortschritten im ursprünglichen Sinne. Die Zahl der Hungersnöte ist ein Gradmesser für den Stand der Kultur eines Landes.103 In dieser Tradition steht letztlich die Erkenntnis vom Wert der zunächst nur als Zier- und Heilpflanze geschätzten Kartoffel.104 Unbeschadet aller lokalen Traditionen, die den einen oder anderen Agrarreformer für die Einführung dieser neuen Feldfrucht im 18. Jahrhundert namhaft machen: Die Durchsetzung der Kartoffel, die zunächst nur als Schweinefutter bekannt geworden war, als menschliches Grundnahrungsmittel ist durch die Hungersnot von 1770/71 erzwungen worden.105
Die Hungersnöte des Mittelalters und der frühen Neuzeit entstanden, weil die Nahrungsdecke zu kurz war. Von daher richtet sich der Blick auf die Hungerkatastrophen der Gegenwart. Auch sie sind in ihren regionalen Ursprüngen von der Natur vorherbestimmt, aber sie sollten im Gegensatz zu früheren Zeiten kein unentrinnbares Schicksal mehr sein. Heutzutage sind dank agrikultureller Fortschritte die physischen Grundlagen ausreichend, um die ganze Welt zu ernähren.106 Aber es hungern mehr Menschen als jemals zuvor in der Geschichte.107 Deshalb folgen wir Stefan Tangermann, daß wir es im Gegensatz zum vorindustriellen Zeitalter „mit einem ökonomischen, nicht aber mit einem physischen Knappheitsproblem zu tun haben“.108 Das heißt aber auch: Die Politik ist gefordert, schließlich sind in einem viel größeren Maße als im Mittelalter interne Kriege Auslöser von Ernährungskrisen. Dabei sind angesichts der Härte des Themas jedoch alle Betroffenheitsaffekte schädlich.109 Alles Reden von „Globalisierung“ oder vom „Weltdorf“ erweist sich als hohl, wenn nicht im Namen der Menschlichkeit eine Herausforderung bewältigt wird, für die es keine einfachen Lösungen gibt.110