Читать книгу Essen und Trinken im Mittelalter - Ernst Schubert - Страница 13
|33|1. „Wenn der heiße Hunger durch das Land fährt“: Not und Angst als Hintergründe des mittelalterlichen Alltags
ОглавлениеBevor überhaupt die Geschichte der Nahrungsmittel dargestellt werden kann, ist über den Hunger zu sprechen. Es geht dabei nicht um die jedermann schon im Mittelalter bekannte Tatsache, daß der Hunger der beste Koch ist,1 es geht um die existentiellste Frage, die sich den Menschen stellte. Im Vaterunser betete man mit größerer Inbrunst als heute vorstellbar ist: Unser täglich Brot gib uns heute. Mindestens einmal in seinem Leben erlebte ein Mensch eine extreme Teuerung, wenn nicht gar eine fürchterliche Hungersnot. Auch ansonsten gehörte der knurrende Magen zum Leben. In den Märchen wird der Traum, König zu werden, in der Vorstellung konkretisiert, stets gut essen zu können. Erst vom Hunger her ist zu begreifen, warum die Menschen trotz aller Gefahren in Küstennähe, in hochwassergefährdeten Gebieten siedelten, warum sie die Qualen der Binnenkolonisation auf sich nahmen.
Die Hungersnöte erweisen, daß die Geschichte nur an ihrer Oberfläche von Menschen gestaltet wird, daß die Natur sowohl im Geben als auch im Verweigern die bestimmende Kraft gewesen ist. Der Hunger begleitete den Menschen seit prähistorischer Zeit.2 Seine Nöte suchen selbst die größten Kulturen heim, sei es die vorderasiatische, die antike oder die chinesische Welt.3 Die große Ausnahme bildet die Harappa-Kultur mit ihrem Hauptort Mohenjodaro. Skelettuntersuchungen haben hier das Fehlen von Hungerkrisen nachgewiesen.4 Obwohl Ernährungskrisen ein zentrales Thema der Universalgeschichte bilden, gilt die 1990 getroffene Feststellung nach wie vor: Die Geschichte des Hungers ist zum großen Teil ungeschrieben. Die Hungernden schreiben selten Geschichte und die Historiker sind selten hungrig.5
Weder Hungersnöte noch Teuerungen haben allein ökonomische Ursachen; sie sind nicht schlichtweg aus der sozialen Ungleichheit abzuleiten. Die von der Natur gewährte Nahrungsdecke ist zu kurz: physische Ursachen. Ein arabischer Reisender des 10. Jahrhunderts stellte fest: „Hungersnot entsteht in den nordischen Ländern nicht infolge von Regenmangel und anhaltender Dürre, sondern lediglich infolge von Regenmenge und anhaltender Nässe.“6 Die mittelalterlichen Chronisten, die immer wieder auffallende Witterungserscheinungen notieren, bestätigen diese Aussage. Besorgt blickten die Menschen gen Himmel.7 Zu lange Winterfröste und stark verregnete Sommer erzeugten dabei die größten Ängste.