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|11|Einführung: Ernährungsgeschichte als Zugang zur Gesellschaftsgeschichte? Populäre Vorstellungen vom mittelalterlichen Essen und Trinken und die ernüchternde Realität

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Die eingeschränkte Aussage mittelalterlicher Rezepte für die Normalität – Die verbreitetste Alltagsspeise: Grütze aus Haferschrot – Fest und Alltag, oder: Die täuschende Überlieferung – Der gemeine Mann, der Dreiviertel seines Einkommens für Essen und Trinken ausgeben muß – Die Folgen einer knappen Nahrungsdecke – Die Gründe für die Beschränkung auf die deutsche Geschichte

Essen und Trinken als Zugang zur Gesellschaftsgeschichte? Ich enttäusche Sie, verehrte Leser, lieber gleich, als daß Sie sich später getäuscht fühlen. Mittelalterliche Rezepte werden in meiner Darstellung nicht zu finden sein. Das liegt an einer Erfahrung, die ich mit anderen Kollegen teile. „Für viele der … empfohlenen Gerichte kann man nur schweren Herzens guten Appetit wünschen, wie nordamerikanische Mediävisten, die mittelalterlichem Kochvergnügen schon seit langem nachgingen, immer wieder versichern.“1 Das sind treffende Worte, die offenlegen, was hinter der etwas kryptischen programmatischen Formulierung einer Tagungspublikation steht, die auch eine Sammlung modernisierter mittelalterlicher Rezepte enthält,2 „so daß der Leser seine eigenen Erfahrungen mit der mittelalterlichen Küche machen kann“.3 Ich will Sie, verehrte Leser, gewiß nicht von solchen Erfahrungen abhalten, zumal Trude Ehlert eine praktikable Rezeptsammlung vorgelegt hat,4 deren Charme in der wissenschaftlichen Behutsamkeit liegt, mit der die Quellen dem heutigen Geschmack angepaßt werden. Dabei waren große Schwierigkeiten der Philologie und des historischen Arbeitens zu bewältigen. Was bedeutet zum Beispiel „ein Lot“ angesichts der verschiedenen Maße im Mittelalter?

Wer partout ein authentisches mittelalterliches Gericht essen möchte, dem empfehle ich mit Wasser zubereiteten und ungezuckerten Haferbrei, das verbreitetste Gericht im deutschen Mittelalter. Als Zugeständnis an die Neuzeit dürfen dabei die seit dem späten 19. Jahrhundert industriell hergestellten Haferflocken verwendet werden,5 um das Gericht wohlschmeckender als die frühere Grütze aus grobem Haferschrot zu machen, jene Haferflocken, die ein kleines Beispiel für die umfassende „Nahrungsmittelrevolution des 19. Jahrhunderts“ sind.6

Es fällt angesichts populärer Auffassungen einigermaßen schwer, statt Menschen, denen der Bratensaft nur so in die Bärte träufelte, sich Menschen vorzustellen, die ihren |12|dünnen Haferbrei löffelten. Noch schwerer dürfte der Abschied von Projektionen einer gesunden, auf Naturnähe gegründeten mittelalterlichen Lebensführung sein.7 Die mittelalterliche Küche ist, was die Natur erzwang, arm an Vitaminen, arm an Frischfleisch, arm auch an Variationsmöglichkeiten. Vorerst mögen einige Hinweise genügen: Das ebenerdige und offene Herdfeuer ließ gar keine aufwendige Kochkunst zu.8 Die mittelalterliche Küche, so es sie denn schon gab, war ein ungemütlicher Arbeitsplatz.9 Selbst wenn es genug zu kochen gab, waren die Arbeitsgänge viel aufwendiger, als es der heutigen Erlebnisgastronomie, wenn sie sich auf ein angebliches Mittelalter beruft,10 lieb sein kann. Weiterhin: Es gab ganz andere Nahrungsgewohnheiten und vor allem, was zumindest die Anwendung mittelalterlicher Rezepte lehrt, ganz andere Geschmacksempfindungen als heutzutage. Problemlos – dieses Beispiel mag genügen – essen und verdauen wir heute die Kartoffel. Aber die an hartes Leben gewöhnten armen Bauern in der Rhön, denen niemand Verzärtelung vorwerfen konnte, klagten über schwere Kopf- und Bauchschmerzen, als Hungersnöte sie im ausgehenden 18. Jahrhundert zwangen, die Kartoffeln, die sie bis dahin allenfalls als Schweinefutter kannten, selbst zu verzehren.11

Vorsorglich sei der Gefahr einer weiteren Enttäuschung vorgebeugt, der möglichen Erwartung von Schilderungen sinnenfroher Genüsse oder Tafelfreuden, wie sie in den Bildern des „Bauern-Breughel“ bewahrt sind. Was ich darstellen muß, ist eine Welt der selbst in normalen Zeiten knappen Nahrungsmittel.12 Der kritische Leser wird fragen, ob ich die vielen Zeugnisse nicht zur Kenntnis genommen habe, die, immer wieder zitiert, Vorstellungen von einem mittelalterlichen Wohlleben zu bestätigen scheinen. (Es gibt eine Wohlstandsfixierung der deutschen Kulturgeschichtsschreibung.) Diese Zeugnisse beziehen sich auf Feste, bei denen sich der Gastgeber nicht lumpen läßt. „In Meißen, Schwaben und Francken ists breuchlich, dz man sagt zu den gesten, Ir müst also fürliebnehmen, habt yhr nicht vil zuessen gehabt, so trincket dester mehr … In Sachsen aber spricht man, Etet in all satt, lieben freundes. Item, Fritt dat ut, Etet in all deger voll.“13 Wenn bis heute in Konstanz der „schmutzige Donnerstag“ vor Aschermittwoch das Hauptfest des Faschings bildet, so erinnert das an mittelalterliche Festfreude: Endlich wird Schmalz an die Speisen getan. Denn „schmutzig“ heißt schmalzig. Sprichwörter bewahren, daß das Fest einst limitierte Überwindung des sorgenvollen Alltags war. Am eindrücklichsten: „An Fastnacht verhungert niemand.“14

Das Sattessen gehört zum Fest, zu einem Ereignis, das aus dem Alltag herausgehoben ist, das mit seinem Fressen und Saufen (wir bedienen uns der Stichworte mittelalterlicher Sittenkritik) nur insofern auf den Alltag zurückweist, als sie dessen Kompensation, als sie der gemeinschaftsstiftende Inhalt des Zusammenkommens sind. Die Quellen überliefern das Außergewöhnliche, nicht das Normale. Feste sind erwähnenswert, nicht aber die gewöhnlichen Mahlzeiten.15 Von den Zeiten der Ernte, der Weinlese und den winterlichen Schlachtwochen vielleicht abgesehen,16 war zumeist „Schmalhans Küchenmeister“.17

Gewiß: Es gibt gute Weinjahre,18 es gibt gute Ernten – das sind bezeichnenderweise den Chronisten berichtenswert erscheinende Ereignisse. Aber die Regel gilt: Die mittelalterliche |13|Landwirtschaft konnte keinen Überfluß produzieren. Es landete kein Essen im Abfall.19 Die Rattenplage in den Städten20 wird durch die Viehhaltung, nicht durch weggeworfene Essensreste hervorgerufen. Übriggebliebenes Essen wird mit Essig zum sogenannten Sammelsur, Sammelsurium zusammengekocht.

Übergewicht war ein Problem der Oberschicht. „Reich ist der Mann, der sich satt essen kann.“21 Dieses Sprichwort charakterisiert die wenigen Reichen und indirekt die vielen Armen. Wie kurz die Nahrungsdecke im Frühmittelalter auch in normalen Zeiten war, ergibt sich schon daraus, daß niemand Vorräte anlegen konnte, die über längere Zeit hinausreichten. Das ist über die häufigen Hungersnöte zu erschließen. Der Beweis läßt sich weniger kompliziert führen. Skelettfunde aus dieser Zeit offenbaren erhebliche Ernährungsmängel.22 Und das gleiche zeigen Untersuchungen spätmittelalterlicher Gräber. Häufig ist hier die Rachitis nachweisbar, eine Krankheit, die auf Vitamin-D-Mangel und damit auf unzureichende Ernährung weist.23

Knappe Nahrungsdecke. Im frühen Mittelalter wurden Eicheln und die späterhin als Viehfutter dienenden Blätter der Eberesche,24 der Haselsträuche und des Weißdorns gemahlen und als Brei gegessen.25 Und zum Spätmittelalter: Etwa 80 % der Einnahmen eines mittleren Haushalts im späten Mittelalter entfallen auf Essen und Trinken, und noch im 16. Jahrhundert werden mindestens Dreiviertel des Einkommens normaler Haushalte für Nahrungsmittel ausgegeben, nur 10 % für Kleidung.26

Sogar am Hofe Karls des Großen wird sichtbar, daß der mächtigste Herrscher des Abendlandes nicht über einen Hof gebieten konnte, an dem Überfluß an Nahrungsmitteln herrschte. Die Höflinge beschlich die Sorge, ob sie auch genug zu Essen bekommen würden. Das kann Einhard im 21. Kapitel seiner „Vita Karoli“ unumwunden ansprechen. Der Herrscher „liebte die Fremden und nahm sich ihrer mit der größten Sorge an, so daß nicht mit Unrecht ihre große Anzahl nicht nur bloß für den Palast, sondern für das ganze Reich (‚solum palatio, verum etiam regno‘) zur Last wurde“. Die Versorgungslast bestand in der Einkleidung der Fremden, vor allem aber in deren Verköstigung. Einhard läßt durchblicken, daß es deswegen laute Klagen am Hofe gegeben haben mußte; Karl hingegen habe diese abgewehrt. Er wog vielmehr die schwersten Nachteile („ingentia incommoda“) gegen den Ruhm der Freigebigkeit und den Gewinn hohen Ansehens („bonae famae mercede“) auf. Aber achten wir genau auf Einhards Wortwahl und die darin vorsichtig versteckte Herrscherkritik: „ingentia incommoda“, ungeheuere Nachteile bedeutete die Versorgung der Fremden am Hofe.27

Wenn selbst zur Zeit Karls des Großen die Politik nicht ohne die Ernährungsgeschichte verstanden werden kann, wird dieser Zusammenhang auch die folgenden Jahrhunderte bestimmen. Ein Sachverhalt genügt zur Erklärung. Die Hanse vermochte gegenüber Flandern und Norwegen den Getreidehandel politisch zu instrumentalisieren.28 1284 wird eine Handelsblockade der wendischen Städte gegen Norwegen verhängt. Mehl, Getreide und Bier dürfen nicht mehr in dieses Königreich geliefert werden. Im Sund überwachen Schiffe die Blockade. Hungersnot entsteht in Norwegen. Der König muß nachgeben.29 Das Mittel der Handelssperre wandte die Hanse mehrfach |14|zwischen 1358/60 und (letztmals) 1457 gegen Flandern an, das auf die Getreideimporte angewiesen war. Selbst das mächtige Brügge mußte sich 1438 angesichts entsprechender Drohungen hansischen Forderungen beugen.

Verwiesen sei auf eine wenig beachtete, schon 1913 formulierte Ansicht, wonach „die Ernährung in jedem Volk sich gegensätzlich zu gestalten vermag. Sorglos kann die eine Schicht Nahrung vergeuden, schmerzvoll kann die andere Nahrung entbehren. In der allgemeinen Geschichte geschieht dieser Tatsache selten Erwähnung.“30 Daran, daß die Wissenschaft dieser nun wirklich nicht umstürzenden Erkenntnis „selten Erwähnung“ tat, hat sich seit dem Jahre 1913 nicht allzuviel geändert. Das liegt nicht zuletzt an der ungeprüften Annahme, wonach in normalen Zeiten Nahrungsmittel in ausreichendem Maße zur Verfügung gestanden hätten.

Vom Gegenstand zum Raum der Darstellung. Beschränkt ist meine Untersuchung auf die deutsche Geschichte. Angesichts der Vielgestaltigkeit deutscher Lande scheinen mir hier die wichtigsten allgemeinen Gefährdungen, aber auch Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Ernährung versammelt zu sein, und andererseits ist der Untersuchungsraum nicht so groß, daß die Faktenauswahl unter dem Verdacht der selektiven „Blütenlese“ zum Schmuck der eigenen Ansichten, wenn nicht gar dem der selektiven Manipulation stehen könnte. Klar ist, daß Europa ohne das von Gratian auf feste Grundlagen gestellte Kirchenrecht, ohne seine Universitäten, ohne die Rezeption des römischen Rechts gar nicht jene ersten blassen Konturen einer Identität hätte hervorbringen können, die man heute kräftiger nachzuzeichnen liebt. Ich übersehe nicht die Bedeutung der Konzilien von Konstanz und Basel für die Entwicklung einer gesamteuropäischen Gelehrtenkultur und halte dennoch daran fest: Die Grundlage der erst spät bewußt gewordenen europäischen Gemeinsamkeiten bildet die mittelalterliche Sozialgeschichte mit ihrem zentralen Thema der Ernährung. Hier hatte Europa Glück. Es durfte seine Probleme allein lösen, durfte etwa auf unrentabel gewordenen Weinterrassen Obstbäume auch zur Mostgewinnung anbauen, ohne befürchten zu müssen, daß internationale Konzerne die Märkte mit ihren billigen Produkten überschwemmten und die Eigeninitiativen erstickten.

Wie alle europäischen Regionen stehen auch die deutschen in stetem Austausch über nationale Grenzen hinweg mit ihren Nachbarn.31 Die großen Wanderungsbewegungen in Mittelalter und Neuzeit sind seit einer Generation ein zentrales Thema der Geschichtswissenschaft. Aber auch Pflanzen wandern wie die Weinrebe, wie der Rosmarin, wie die Gurke, wie die „welsche Nuß“, die Walnuß,32 wie der zunächst als Savoyerkohl benannte Wirsing33 im Mittelalter oder dann wie die Gemüsebohne, die Erdbeere und – triumphierend – die Kartoffel in der frühen Neuzeit. Naturgemäß wandern Kulturpflanzen mit den Menschen. Diese Aussage ist aber auch umzukehren: Die Kulturkontakte über humane Migration im Mittelalter sind in ihrem Ausmaß gar nicht in den schriftlichen Quellen überliefert.34 Wenn aber fremde Pflanzen heimisch werden – Deutschland war immer auch ein Einwanderungsland –,35 dann gewährt dies blasse Vorstellungen von dem Ausmaß, wie sehr das Mittelalter von Mobilität und internationalem Austausch geprägt |15|war. Immigranten vom Rosmarin bis zur Gurke deuten an, daß unser Vorhaben, über die Geschichte der Ernährung Aufschlüsse zum Werden der Gesellschaft zu gewinnen, vielleicht doch nicht so abwegig sein könnte, wie es zunächst scheint.

Essen und Trinken im Mittelalter

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