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1.3 Die Triebentwicklung

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Der Trieb wird bei Freud (1915c, S. 214 f.) definiert als »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant, der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist«. Der Trieb wird im Es psychisch repräsentiert und erscheint dort als Drang. Er hat seine Quelle im Körperlichen und ein Triebziel, beispielsweise die orale Einverleibung, sowie ein Triebobjekt, die Mutterbrust oder das ödipale Objekt. Das Triebziel ist immer die Befriedigung und das Objekt dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreicht.

Der Trieb entwickelt sich in Phasen, d. h. er progrediert und kann zu einer früheren Form der Triebbefriedigung regredieren. Die Phasentheorie beruht auf verschiedenen erogenen Zonen, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten mit Triebenergie besetzt werden und die Partialtriebe mit ihren Befriedigungsmöglichkeiten prägen. Die Partialtriebe der frühkindlichen Phasen werden schließlich in der Pubertät in den reifen Genitaltrieb integriert. Entscheidend für das Gelingen der Triebentwicklung ist ein für das Kind verarbeitbares Maß an Triebbefriedigung und Triebversagung. Bei zu viel Versagung kann es zu Fixierungen und Regressionen kommen, bei zu viel Befriedigung ebenfalls ( Tab. 1.1).

In der oralen Phase, im ersten Lebensjahr des Kindes, ist die sogenannte erogene Zone die Mundhöhle und die Hautoberfläche. In dieser Phase geht es um die Befriedigung oraler Bedürfnisse, aber auch um Geborgenheit, Urvertrauen (Erikson 1968, S. 241 ff.), Hautkontakt, das Hören der Stimme der Mutter, das Riechen der Mutter, um Wärme, Anklammerung und Sicherheit. Der enge Kontakt zur Außenwelt geschieht über das Saugen an der Mutterbrust oder deren Surrogat. Mit der Muttermilch findet die erste Inkorporation und Exkorporation statt. Die ersten Aktivitäten sind die oralen Aktivitäten des Saugens und Schreiens. Der Aggressionstrieb, der immer auch die Funktion hat, Trennung und Individuation zu fördern, äußert sich im Beißen und führt nach dem Zahnen des Babys zur Beendigung der Stillphase. Der orale Trieb wird autoerotisch, er löst sich vom Partialobjekt Mutterbrust und wendet sich Befriedigungen wie dem Daumenlutschen oder Schnuller zu. Der Säugling erkundet seine Umwelt, indem er alles in den Mund steckt. Orale Aggression drückt sich im Beißen, Aussaugen, im Vampirismus und Kannibalismus, im Auffressen der Beute aus.

Tab. 1.1: Die psychische Entwicklung


TriebentwicklungEntwicklung der ObjektbeziehungenEntwicklung des Selbst (Narzismus)

Während der analen Phase vom zweiten bis zum vierten Lebensjahr wird dem Kind durch den Reifeprozess der Körpermuskulatur die Sphinkterkontrolle möglich. Auch die motorische Fortbewegung, das Sich-Entfernen und Wiederannähern an die Mutter werden zu den zentralen Erfahrungsqualitäten. Das Kind erlebt seinen Kot als Teil von sich, den es nach Lust und Laune behalten oder hergeben kann. Der Kot gilt als das erste Geschenk des Kindes, das es seiner Umwelt geben kann. Die erogene Zone ist in dieser Zeit der Enddarm und der After mit seiner sensiblen Schleimhaut. Zur analen Lust gehört das Gefühl der Meisterung, der Autonomie, des Trotzes und der Stolz auf das eigene Produkt, eine wichtige Voraussetzung für ein Vertrauen in die eigenen Leistungen. Eine anale Fixierung wird in der Psychoanalyse mit individuellem Besitzstreben und Geiz in Verbindung gebracht. Geld galt in den Mythen der Anden Südamerikas als Götterkot (Elhardt 1971, S. 74). In Europa ging der Entstehung des Kapitalismus der Beginn der Reinlichkeitserziehung voraus. Im Mittelalter konnte man noch seine Notdurft verrichten, wo man sich gerade aufhielt. Aus Angst vor inneren Dämonen wurden bereits Säuglingen Klistiere und Abführmittel verabreicht. Ein individuelles Besitzstreben konnte sich so nicht ausbilden (Heinemann 1998b).

In der analen Phase herrschen nicht nur die Modi Festhalten und Loslassen, sondern auch Aktivität und Passivität. Kneten und Schmieren sind bereits Sublimierungen analer Lust. Kreativität wurzelt letztendlich in der schöpferischen Umformung von Materialien. In den typischen analen Reaktions- und Charakterbildungen sind Abwehr wie Befriedigung analer Impulse unverkennbar. Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn nannte Freud (1917c) die anale Trias. Anale Aggression ist deutlich weniger absolut wie die orale Aggression. Sie äußert sich in Entwertung, beispielsweise durch die sogenannte Fäkalsprache (Hosenscheißer etc.), im Sich-Unterwerfen, in Sadismus und Masochismus.

Die anale Phase wird schließlich von der phallischen Phase abgelöst, in der auf der Objektbeziehungsebene der Ödipuskonflikt dominiert. Freud ging davon aus, dass in dieser prägenitalen Phase nur ein Geschlechtsorgan wahrgenommen wird, der Phallus des kleinen Jungen. Entweder man hat ihn, oder nicht, kastriert oder nicht, ist hier die Frage. Aus dem Sichtbaren hat Freud den phallischen Monismus (1923e) abgeleitet. Freud meinte, dass das Mädchen über zwei Geschlechtsorgane verfüge, ein männliches, kastriertes, die Klitoris und ein weibliches, die Vagina, die das Mädchen erst in der Pubertät entdecke. Die Modi dieser Zeit sind Eindringen und Umschließen. Dem phallischen Monismus wurde schon frühzeitig widersprochen (Jones 1928, 1933; Horney 1933), indem die Nicht-Existenz der Vagina als Abwehrprodukt im Sinne der Verleugnung aufgrund zu großer Kastrationsängste in der männlichen Entwicklung kritisiert wurde. Mitscherlich-Nielsen (1975) schlägt vor, von einer phallischen und klitoridal-vaginalen Phase zu sprechen ( Kap. 3). Als phallischeAggressionwird das Konkurrieren, z. B. beim Urinieren, Stechen oder Kastration betrachtet.

Freud (1915 f, S. 242) bezeichnete die Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs als Urszene; das Kind erlebt sich als ausgeschlossen aus der elterlichen Beziehung und erhält so einen Schub in Richtung Aufgabe des Ödipuskomplexes. Die Fantasien, die um die Urszene kreisen, gehören zu den Urfantasien.

In der folgenden Latenzphase ruht die Triebentwicklung, Lernen und kognitive Reifung stehen im Vordergrund. Die Latenzperiode gilt als eine Zeit der Konsolidierung. Das Kind verlegt sein Interesse auf die Bewältigung der Realität.

In der Pubertät kommt es zur erneuten Besetzung der Genitalien mit dem Erlangen der Geschlechtsreife. Die Pubertät gilt als eine der größten Krisen in der gesamten Entwicklung. Durch hormonelle Veränderungen kommt es zu einem erheblichen Zuwachs an Triebdruck und Veränderungen des Körpers durch sekundäre Geschlechtsmerkmale. Es kommt zu einer Reaktivierung frühkindlicher Phasen vor allem auch mit dem Ziel der Integration von Sexualität.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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