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Vorwort zur sechsten Auflage

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Wir freuen uns, dass die Nachfrage auf unser Buch über Psychische Störungen und ihre Psychodynamiken ungebrochen ist, so dass eine sechste, aktualisierte Auflage erscheint. Wir haben uns entschieden, die Theorie zum selbstverletzenden Verhalten zu ergänzen und zwei Fallbeispiele hinzuzufügen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass das selbstverletzende Verhalten von Jugendlichen zugenommen hat: Deutschland gehört innerhalb von Europa zu den Ländern mit den höchsten Prävalenzraten (Plener et al., 2018).

Nach wie vor hat es ein psychodynamisches Verstehen der Sammel-Diagnose ADHS schwer. Um diese medizinische Diagnose hat sich ein geschlossenes System etabliert. So gut wie alle Kinder mit sozialen Auffälligkeiten, mit jedweden Formen von Konzentrationsstörungen, bekommen heutzutage Medikation. Als Psychotherapiegutachter konnte ich (H. H.) beobachten, dass mittlerweile beginnende Schulprobleme, mäßig gesteigerte Bewegungsunruhe, auch leicht aggressives Verhalten eines Kindes sofort medikamentös behandelt werden, nicht selten ohne ausreichende psychologische Diagnostik. Der Eindruck entsteht, dass Kinder gelegentlich konzentrierter, leistungsstärker – vor allem aber diszipliniert werden sollen.

Damit werden die zentralen Konflikte verschleiert. Viele Kinder- und Jugendpsychiater sind dankbar, dass Ihnen für alle sozialen Störungen ein vermeintlich ›hilfreiches‹ Medikament zur Verfügung steht, das schnelle Hilfen verspricht. Eltern fühlen sich entlastet. ADHS ist gemäß der offiziellen Kinder- und Jugendpsychiatrie eine angeborene Transmitterstörung. Folglich haben die Symptome auch nichts mit ihnen und ihren Beziehungen zu tun. Wer an ihre Verantwortung appelliert, weist ihnen – angeblich – Schuld zu. Fast immer beginnt eine psychoanalytische Therapie mit dem mühevollen Unterfangen, Eltern darüber aufzuklären, dass Konzentrationsprobleme und Bewegungsunruhe zu allererst pädagogischen und psychologischen Bereichen zuzuordnen sind.

In Kitas, Kindergärten und Schulen bekommen Kinder von ihren Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern oft schon nach kurzer Beobachtung ihres Verhaltens die Diagnose ADHS, obwohl die dazu notwendigen Kenntnisse fehlen, und sie das gar nicht dürften. Lehrerinnen und Lehrer üben nicht selten Druck auf Eltern aus, ihren Kindern eine Medikation zu verabreichen, damit sie im Unterricht angepasste Kinder haben.

Von 1973 bis 1995 hatte ich (H. H.) kein Kind wegen Bewegungsunruhe oder Unaufmerksamkeit in psychotherapeutischer Behandlung, auch nicht mit ähnlichen Begleitsymptomen, und ich besitze noch die Akten aller Kinder, die ich während 47 Jahren behandelt habe. Was ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen wird, ist, dass es damals bei den Mädchen auch kein selbstverletzendes Verhalten gab. Selbst Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung hatten selten eine entsprechende Symptomatik. Heute ist es oft so, dass Jugendliche mit selbstverletzendem Verhalten im Umkehrschluss die Diagnose Borderline-Störung erhalten, weil die offizielle Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht immer nach Ursachen und der Dynamik fragt. Wir gehen davon aus, dass das selbstverletzende Verhalten die Parallel-Störung zum ADHS der Jungen ist. Nur werden die Spannungen nicht wie bei den Jungen externalisiert, sondern internalisierend als destruktive Kraft auf das eigene Selbst und den Körper gerichtet. Beide Störungsbilder zeigen Mängel innerhalb der Symbolisierungsfähigkeit. Wir vermuten, dass beide auch zentrale Folgen einer sich verändernden Gesellschaft sind. Mittlerweile haben bereits Jugendliche der frühen Adoleszenz Geschlechtsverkehr, oft von der Familie aktiv unterstützt. Dies kann als eine neue Freiheit angesehen werden. Aber welche Folgen hat das bei einem strengen Über-Ich? Die einstigen Verbote und strengen Regeln haben Mädchen in der Präadoleszenz und später auch geschützt. Wir leben in einer Gesellschaft mit vielen Freiheiten. Sie stellt aber keinen stabilen Rahmen mehr zur Verfügung. Sie ist wenig haltend und bewahrend. Viele junge Mädchen sind von frühen sexuellen Beziehungen überfordert.

Wir haben auch große Sorge, dass das Störungsbild »Autismus-Spektrum-Störung« ein ähnliches Schicksal erfahren könnte (vgl. Hopf, 2019, S. 145–156) wie ADHS. Die Zahl der Autismus-Diagnosen ist weltweit angestiegen. Auch in Deutschland wird die Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« immer häufiger vergeben. Zum einen sind Vereinzelung und Rückzugsverhalten Teil einer kollektiven Pathologie. Wir leben in einer Welt von gestörten Beziehungen, von Elterntrennungen und Rückzugstendenzen.

Autistische Züge können aber auch leicht mit anderen Merkmalen verwechselt werden, bei Bindungsstörungen, bei schizoiden Tendenzen, narzisstischen Störungen oder bei depressiven Rückzügen. Oft werden einzelne Diagnosekriterien herausgegriffen und verabsolutiert, auch werden Differenzialdiagnosen nicht immer gründlich erörtert. Es besteht die Gefahr, dass die Autismus-Spektrum-Störung in ähnlicher Weise ausgeweitet werden könnte wie bereits die ADHS. Seit der Diagnostizierung von ADHS haben wir den Eindruck, als sei eine gewisse Furchtsamkeit, zumindest Irritation entstanden, vermeintlich biologische Störungsbilder psychosomatisch zu verstehen. Wir brauchen selbstbewusste Psychoanalytiker, die Kinder, ihre Konflikte und ihre Beziehungen verstehen. Ärztliche Diagnosen und Diagnosen gemäß ICD sollen selbstverständlich immer erwähnt werden. Doch für die Erstellung eines Therapieplans benötigen Psychoanalytiker eine eigene schlüssige Psychodynamik und eine Diagnose nach neurosenpsychologischen Aspekten. Der Reichtum der Psychoanalyse kann Schubladen-Diagnosen in Frage stellen. Wir sind davon überzeugt, dass wir die Leserinnen und Leser mit unserem Buch bei der Erstellung von Diagnosen hilfreich begleiten können.

Ein kleiner Hinweis noch zu den im Buch besprochenen Diagnosen nach ICD-10: Die ICD -11 wird voraussichtlich am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Sie ist völlig neu aufgebaut und gegliedert; ohne genaue Kenntnis des Werkes kann eine Einarbeitung der neuen Diagnosen in diesem Buch leider noch nicht erfolgen.

Frankfurt a. M. und Mundelsheim

im Herbst 2020

Evelyn Heinemann und Hans Hopf

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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