Читать книгу Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann - Страница 20

3.5 Der Gebärneid des Mannes

Оглавление

Wie sehr gesellschaftliche Realität die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz prägt, lässt sich bereits am Penisneid und Kastrationskomplex belegen. Waren sie bei Freud zentrale Paradigmen menschlicher Entwicklung, so sind sie in anderen, matrilinearen Kulturen gar nicht zu finden. Gebärneid und andere Sexualängste treten an ihre Stelle (Heinemann 1995; 1998a).

Die Existenz des Gebärneides ist bereits von Freud erwähnt worden. »Es ist nicht immer leicht, die Formulierung dieser frühen Sexualwünsche aufzuzeigen; am deutlichsten drückt sich der Wunsch aus, der Mutter ein Kind zu machen, wie der ihm entsprechende, ihr ein Kind zu gebären, beide der phallischen Zeit angehörig, befremdend genug, aber durch die analytische Beobachtung über jeden Zweifel festgestellt« (Freud 1933a, S. 128). Der alten symbolischen Äquivalenz Penis-Kind liegt dann eher der Wunsch nach einem Kind zugrunde, der im Sinne einer Reaktionsbildung durch die Idealisierung des Penis abgewehrt werden kann. Jacobson zufolge gibt es orale und anale Schwangerschaftsfantasien bei beiden Geschlechtern. »Der Wunsch nach einem Kind ist historisch älter als der Wunsch nach oder der Stolz auf den Penis. Der Wunsch nach einem Kind scheint sogar zuerst nur die Mutter-Kind-Beziehung zu betreffen ohne Fantasien über die Beziehung der Eltern« (unsere Übers., E. H., H. H.; Jacobson 1950, S. 141). Und Jones: »Es ist eher so, dass es (das Mädchen, E. H., H. H.) eine lustbetonte Vorstellung hat, den Penis in sich aufzunehmen und ein Kind daraus zu machen, als dass es nur deshalb ein Kind wünscht, weil es nun mal keinen Penis sein eigen nennen kann« (Jones 1933, S. 346). Boehm (1930) und Klein (1928) stellten einen intensiven Neid des Mannes auf die weiblichen Brüste und die Gebärfähigkeit fest, sie bezeichnen den Neid des Mannes als Weiblichkeitskomplex. Horney wurde noch deutlicher: »Biologisch betrachtet, verschafft aber die Mutterschaft, resp. die Fähigkeit zu ihr, der Frau eine ganz unbestreitbare und nicht geringe physiologische Überlegenheit. Das spiegelt sich auch aufs deutlichste im Unbewussten der männlichen Psyche wieder in dem intensiven Mutterschaftsneid des Knaben« (1926, S. 365). Über den Weg der Verkehrung ins Gegenteil wird aus dem Neid die Verachtung der Frau, so Horney.

Bettelheim (1975) sieht die Phallusverehrung als ein späteres kulturelles Produkt gegenüber dem Gebärneid. Er interpretiert die Initiationsriten sogenannter primitiver Völker als Bewältigungsversuche des Gebärneides. »So mag die Gesellschaft nicht auf der Verbindung der mörderischen Brüder (wie Freud postulierte), sondern auf einer gemeinsamen Anstrengung der Männer, ein allgemeines Problem (den Gebärneid, E. H., H. H.) zu meistern, gegründet worden sein« (ebd., S. 163).

Inzwischen liegen psychoanalytische Forschungen aus matrilinearen Kulturen vor, die eine unserer Kultur völlig verschiedene Sozialisation und Gesellschaftsstruktur haben (Heinemann 1995; 1998a). In Palau sind Kastrationsangst und Penisneid nicht zu finden, dafür ist die Kultur durchsetzt von der Gleichsetzung von Essen und Sexualität. Das Tabu des Verzehrs des Totemtieres sichert die Exogamie. Die Geschlechtsorgane von Mann und Frau werden mit Nahrungsmitteln benannt und nichts zu essen zu haben, heißt, keinen Sexualpartner zu haben. Sexualität wird bezeichnet als »Essen von demselben Teller« und Männer und Frauen dürfen nicht gemeinsam miteinander essen. So wird die Geschlechtsidentität durch äußere Trennung der Geschlechter aufrechterhalten (ebd., 1995, S. 58).

Anstelle der Kastrationsangst tritt beim Mann die Angst, sexuell nicht zu genügen, ähnlich wie dies Horney beschrieben hat. Folgender Mythos erzählt von dieser Angst des Mannes: »Ein Mann, der im Norden von Babeldaob lebte, war unfähig, seine Frau, die viel größer war als er, zu befriedigen. Da er seine Frau liebte und wollte, dass sie Lust empfand, überredete er sie, in ganz Palau nach einem Mann zu suchen mit dem Namen Melechotchachau … Sie fand Melechotchachau und fragte ihn, ob seine legendäre Ausstattung der Wirklichkeit entspreche. Der Mann sagte ihr, sie solle nur seinem Glied folgen, wie es sich einige Meilen zwischen den Felseninseln südlich von Ngerkebesang hinauswinde. Die Frau fand schließlich die Spitze des enormen Gliedes, und sie bestieg es sofort. Sie wurde sogleich in die Luft geschleudert und zur Insel Peleliu in der Nähe des Dorfes Ngerdelolk geworfen. Bis zum heutigen Tag gibt es einen Felsen in der Nähe dieses Dorfes mit dem Namen Ngetkoang, was bedeutet ›geworfen zu werden von einer hockenden Stellung‹. Der Fels hat die Figur der total befriedigten Frau, die Melechotchachau fand« (ebd., S. 50 f.).

Die Angst des Mannes vor der Sexualität der Frau wird mit der Drohung der Versteinerung, vielleicht ähnlich des Konzeptes der Aphanisis (Jones), beantwortet. Im Zentrum aller Riten steht in Palau die Zeremonie der Geburt des ersten Kindes, mit der die Frau einen quasi »göttlichen« Status erhält. Gebärneid auf Seiten der Frauen drückt sich im Ritus aus, wenn die junge Mutter 10 Tage mit kochend heißem Wasser und Rutenhieben von Frauen zur Vorbereitung der Zeremonie behandelt wird. Symbolisch wird ihr Geschlechtsorgan im Essen des Taro, der unter ihrer Vagina gedämpft wurde, kannibalistisch verzehrt. Der Gebärneid des Mannes drückt sich aus, wenn Männer nach der früher stattfindenen Kopfjagd den erbeuteten Kopf in einer der Zeremonie des ersten Kindes analogen Weise präsentierten.

Fantasien um Geschlechtsorgane und Geschlechterdifferenz sind abhängig von der realen Macht und Position der Geschlechter in einer Kultur, bzw. stehen in einem dialektischen Prozess und tragen als unbewusste und bewusste Fantasien zur Erhaltung der Machtstrukturen bei.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

Подняться наверх