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4 Psychoanalyse und Pädagogik 4.1 Die Anfänge der psychoanalytischen Pädagogik

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Die Geschichte der Psychoanalyse ist von Anfang an eng mit Pädagogik verbunden. Behandelte die Psychoanalyse neurotische Störungen auf dem Hintergrund der genetischen Theorie, d. h. der Annahme einer Entstehung psychischer Störungen durch Erlebnisse, die bis in die Kindheit zurückgehen, so ist die Erforschung des Unbewussten gleichzeitig auch Erforschung der Psychologie des Kindes. Da die Psychoanalyse in ihren Anfängen Interessenten ganz verschiedener Berufszweige offenstand, waren es naturgemäß psychoanalytisch ausgebildete Pädagogen, denen die Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik zu verdanken ist. Diese Diskussion aus der »Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik« fand in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik (1926–1937) ihren publizistischen Niederschlag.

Den ersten im engeren Sinne pädagogischen, d. h. auf das Kind gerichteten Erziehungsversuch unternahm Freud selbst. In seiner Schrift »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (1909, Kap. 10) behandelte er das Kind, indem er Gespräche mit dem psychoanalytisch aufgeklärten Vater führte, der die Erkenntnisse aus den Gesprächen mit Freud in pädagogisch-therapeutisches Handeln umsetzte. Freud blieb jedoch sehr zurückhaltend in der Einschätzung der Möglichkeit einer psychoanalytischen Behandlung von Kindern, sah er es doch als behindernd an, dass das Kind in seiner Charakterstruktur noch unfertig, noch in der Entwicklung befindlich und zudem der krankmachenden Umgebung des Elternhauses noch ausgesetzt ist und es nicht aus eigenem Streben kommt. »Die Herstellung des Kindes mag dem Arzt gelingen, aber es geht nach der Genesung um so entschiedener seine eigenen Wege, und die Eltern sind jetzt weit mehr unzufrieden als vorher« (1920a, S. 275). Trotzdem sprach Freud (1910, S. 51) von der psychoanalytischen Behandlung als einer fortgesetzten Erziehung zur Überwindung von Kindheitsresten. In diesem Sinne nannte er die psychoanalytische Kur mehrfach »Nacherziehung«. Im Vorwort zu August Aichhorns »Verwahrloste Jugend« schrieb Freud 1925, dass die Theorie und Praxis der Kindererziehung von allen Anwendungen der Psychoanalyse diejenige ist, die das größte Interesse, die meisten Hoffnungen erweckte und die tüchtigsten Mitarbeiter herangezogen habe. Das Kind wurde Objekt psychoanalytischer Forschung und es entstand die Erwartung, die psychoanalytische Bemühung um das Kind werde der erzieherischen Tätigkeit zugutekommen. Freud ließ offen, ob dies gelang, eine gewisse Skepsis ist zwischen den Zeilen zu lesen. Zur psychoanalytischen Pädagogik August Aichhorns schrieb er: »Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihm praktisch wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theoretische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen« (1925, S. 7). Mit dem Begriff der »intuitiven Einfühlung« scheint Freud die pädagogische und analytische Methode trennen zu wollen, wobei das Pädagogische als »Intuition«, d. h. unwissenschaftlich, durchaus eine Abwertung erfährt. Freud war um die Differenz beider Methoden bemüht. »Ein Kind … ist eben noch kein Neurotiker und Nacherziehung etwas ganz anderes als Erziehung des Unfertigen. Die Möglichkeit der analytischen Beeinflussung ruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die man als ›analytische Situation‹ zusammenfassen kann, erfordert die Ausbildung gewisser psychischer Strukturen, eine bestimmte Einstellung zum Psychoanalytiker. Wo diese fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwahrlosten … muss man etwas anderes machen als Analyse, was dann in der Absicht wieder mit ihr zusammentrifft« (ebd., S. 8). Beide Methoden bleiben für Freud unvereinbar, er plädiert aber für die Durchführung einer Analyse beim Pädagogen. Er schließt mit dem Schlusssatz, dass Erzieher, sofern sie sich einer Analyse unterzogen haben, für die Ausübung der Analyse freigegeben werden sollen. Psychoanalytische Pädagogik ist dann nicht mehr Pädagogik, sondern aus Pädagogen werden Analytiker. Dies entspricht denn auch den Entwicklungen in der Realität, wie sie nach dem 2. Weltkrieg einsetzten, aus Pädagogen mit einer psychoanalytischen Weiterbildung wurden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, wobei der Status Psychotherapeut weiterhin eine Grenze zum Psychoanalytiker aufrecht hält.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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