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6.2 Fallbeispiel »Susi«

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Susi, 2 Jahre und 9 Monate alt, war eines Abends gestürzt und hatte sich an einem Legostein verletzt. Mutter und Vater brachten sie in die Klinik, denn die Wunde musste genäht werden. Die Eltern wurden während des Eingriffes hinausgeschickt, was dramatische Folgen hatte, weil die erzwungene Trennung das kleine Mädchen überforderte. Susi hatte von nun an panische Angst vor Schwestern und Ärzten und wollte nachts nicht mehr allein schlafen.

Susi sei zum Zeitpunkt vor dem Unfall schon recht selbständig und angstfrei gewesen, nach dieser Operation habe sie jedoch begonnen, sich wieder an die Eltern zu klammern. Auch hätte sie bereits Anstalten gemacht, trocken und sauber zu werden, erlitt jetzt auch in diesem Bereich einen Rückfall. Ganz langsam habe sie zudem angefangen, den Stuhl zurückzuhalten. Kotete sie in die Windel, wenn es nicht mehr anders ging, tat ihr der verhärtete Stuhl weh, was dazu führte, dass sie vor jedem künftigen Stuhlgang immer mehr Angst bekam. So kam es, dass die Abstände zwischen den jeweiligen Stuhlgängen immer länger wurden, manchmal bis über eine Woche, was die Eltern zunehmend in Panik versetzte. Die vom Kinderarzt verschriebenen Abführmittel zeigten kaum eine Wirkung. Susi versuchte immer verbissener, den Stuhlgang zurückzuhalten, hockte sich, wenn sie Stuhldrang bekam, in eine Ecke, drückte und presste mit hochrotem Kopf, dass nur nichts in die Windel ging. Daraufhin verordnete der Kinderarzt die Verabreichung von Klistieren. Immer wenn drei bis vier Tage vergangen waren, wurde Susi ausgezogen, festgehalten, bekam einen Einlauf und hatte dann meistens Stuhlgang. Vor den Einläufen hatte sie mittlerweile ebenfalls panische Ängste, ließ sich aber weder durch Zureden noch durch Anschreien davon überzeugen oder zwingen, dass sie von selbst Stuhlgang hatte. Dabei war Susi sonst über die Maßen »lieb« und es gab keinerlei Trotz.

Die Mutter kommt zum vereinbarten Gespräch in meine Praxis mit einem winzigen Mädchen an der Hand. Vielleicht hatte ich auch vergessen, wie klein noch nicht Dreijährige sind. Während Frau S. spricht, schaut Susi munter im Zimmer herum, ich spüre keine Angst bei dem Mädchen, vielmehr Neugierde und Lust, die Welt zu erobern. Und tatsächlich: Mit einem Mal springt Susi vom Schoß der Mutter, rennt wie ein geölter Blitz zum Schrank, holt sich dort einen Becher mit Würfeln, springt wieder auf den Schoß der Mutter zurück und leert die Würfel auf dem Tisch aus. Sie spritzen regelrecht in die Gegend, fallen runter, verstreut in alle Ecken. Ich erlebe den »Entleerungsvorgang« reichlich lustvoll und gleichzeitig aggressiv gegen die Mutter gerichtet. Frau S. ist etwas verblüfft, steht dann aber wortlos auf, bückt sich, füllt den Becher wieder – und zufrieden lächelnd leert Susi den Becher wieder aus. Immer wieder und immer rascher. Geduldig sammelt die Mutter die Würfel wieder ein und lässt sich sichtlich von Susi in ihr Spiel einspannen, ja kontrollieren und beherrschen. Susi kann offensichtlich dann loslassen und entleeren, wenn sie es selber will und wenn sie die Mutter damit beherrschen kann. Das zeigt sie ihrer Mutter und mir. Dabei lächelt mich die Kleine an und gibt mir zu verstehen, dass sie sich hier pudelwohl fühlen würde. Ich sage zu ihr: »Susi zeigt der Mama und mir, dass sie etwas kann. Sie kann Aa machen. Aber die Mama hilft noch dabei mit.«

In den ersten Stunden war es, als fühle sich Susi befreit und wolle nur noch loslassen, ausstoßen, herumspritzen und ein »Liebesverhältnis mit der Welt« beginnen. Schon als ich die Tür zum Wartezimmer öffne, schießt Susi wie ein Pfeil an mir vorbei und rennt ins Spielzimmer. Von da an konnte sie sich mühelos von der Mutter trennen und immer allein bei mir bleiben. Susi stürzt sich auf die Wasserleitung, findet dort ein Glas, lässt Wasser hinein und leert es wieder aus. Ich sage zu ihr: »Das ist jetzt, wie wenn Susi eine Rolle macht.« (Rolle bedeutet in der schwäbischen Mundart »urinieren«). Susi lacht und sagt, mich genussvoll imitierend: »Rolle!« Mit spürbarer Lust füllt sie immer wieder das Glas, leert es aus, stopft etwas in den Ausguss, füllt wieder Wasser ins Becken, lässt es wieder auslaufen und verspritzt mit dem Wasser die gesamte Gegend und sich selbst. Sie ist hinterher patschnass. Sie will größer sein, damit sie alles bewerkstelligen kann und befiehlt: »Hopf, hochheben!« Ich sage: »Susi will ganz groß sein.« Ich frage sie, ob wir einen Stuhl hinstellen sollten, dann könnte sie doch alles selber machen. Susi strahlt und nickt eifrig. Ich will auf diese Weise vermeiden, dass ich ihre regressiven Wünsche unterstütze und bedeute ihr damit gleichzeitig, dass ich ihr zutraue, dass sie für sich selbst sorgen kann. In jedem Fall möchte ich damit nicht einfach »ich-stärkend« oder gar moralisch unterstützend sein, sondern ihr mitteilen, dass ich um ihre verloren gegangene Selbständigkeit weiß.

Rasch geriet die Wiederannäherungsphase in den Mittelpunkt der Therapie. Susi malte und ich schaute vor ihr stehend zu. Plötzlich guckt sie von unten rauf und sagt zu mir im breitesten Schwäbisch: »Hock di na« (Setz Dich hin). Sie hat den großen überlegen tuenden Kerl nicht mehr ertragen. Zwar hat sie seine Nähe gesucht und seine Bewunderung. Aber sie will auch selbständig sein und fühlt sich dabei grandios und überlegen. Wenig später sucht sie wieder Nähe und attackiert und entwertet das Objekt. Wenn ich das Stundenende ankündigte, sprang Susi regelmäßig unter den Tisch und versteckte sich dort. Da die Stunde jetzt zu Ende war, entsprach es unserem Setting, dass die Mutter wieder als reales Objekt in Erscheinung trat. Ich teilte also das Ende der Stunde sowohl Susi als auch ihrer wartenden Mutter mit und widmete mich meinen notwendigen Aufgaben wie Protokollieren, Telefonieren und anderem. Susi wartete bis die Mama kam, sie suchte und entdeckte. Mit lustvollem Kreischen ließ sie sich von der Mutter hervorlocken, spielte ein wenig bockige Verweigerung und ließ sich scheinbar widerstrebend hervorziehen. Was sie zuvor in der Übertragung inszeniert hatte, übte sie nach der Stunde mit der Mutter. Die Beziehung zu ihr wurde langsam aggressiver, gleichzeitig hatte Susi immer häufiger Stuhlgang, ohne dass die Eltern aktiv etwas unternommen hätten.

Zuhause erlebten die Eltern eine immer widerspenstigere, oft eigensinnige Susi. Trotziger Autonomiekampf setzte ein, die destruktive Aggression kam wieder direkt in die Beziehung. Die Ausscheidung musste nicht mehr von Objektverlustängsten begleitet werden. Susi begann wieder regelmäßig unbeschwerten Stuhlgang zu haben, wenig später sogar auf dem WC, so dass ich die Behandlung mit Beendigung der Kurzzeittherapie abschloss (vgl. Hopf 1998a, S. 133).

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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