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Einzelgespräche:

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Die 13-jährige Manuela blieb seit ihrer Einschulung regelmäßig vom Unterricht fern, so dass sie in die Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen wurde. Im ersten Halbjahr war sie bei mir lediglich 25 Tage anwesend. Im Unterricht störte sie nicht, sie weigerte sich aber zu lesen und zu schreiben. Sie war immer sehr auffällig zurecht gemacht, so dass sie die Eifersucht der anderen Mädchen heraufbeschwor. Ich bat sie zu einem Einzelgespräch. Ich begann das Gespräch mit den Worten: »Ich habe den Eindruck, dass Du nicht gerne in die Schule kommst.« Manuela (verlegen): »Na ja, es macht mir halt keinen Spaß. Ich kann ja auch schon alles.« E. H.: »Du meinst, Du bist schon erwachsen, kannst schon alles und brauchst deshalb nicht mehr in die Schule zu gehen? Du möchtest nicht mehr zu Deinen Klassenkameraden gehören?« Manuela: »Na ja, Frau Heinemann, ich sehe doch auch schon viel älter als die anderen aus. Das sagen meine Freundinnen auch.« E. H.: »Du hast also Angst, zu den Klassenkameraden dazugerechnet zu werden; Angst, dass die Leute Dich nicht für erwachsen halten. Gell, deshalb hast Du Dich auch neulich die ganze Stunde geschminkt und gekämmt, als wir die Referendare zu Besuch hatten?« Manuela: »Ja, ich sehe doch schon viel älter aus.« E. H.: »Deswegen hast Du auch keine Lust zu arbeiten, weil Du schon erwachsen sein möchtest und als Erwachsener kann man halt schon lesen, schreiben und rechnen. Deshalb möchtest Du auch nicht wie hier in der Schule erleben, dass Du das noch gar nicht kannst, dass Du vielleicht doch noch nicht so bist, wie Du gerne sein möchtest.«

Manuela begann von ihrem Elternhaus zu erzählen, von der Mischung aus körperlicher und sexueller Gewalt, dessen Bedrohung sie nur abwehren konnte über ein sexualisiertes Verhalten ( Kap. IV). Verführerisch zu sein, gab ihr ein Gefühl von Autonomie und Macht, zu lernen dagegen hieß Kind sein, ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sein. Manuela hatte keine Schulphobie ( Kap. 10), sondern schwänzte die Schule, weil sie Lernen mit Abhängigkeit und sexualisiertes Verhalten mit Autonomie gleichsetzte.

Nachdem ich versucht hatte, Manuela diese Situation bewusst zu machen, sagte ich: »Du schämst Dich für das, was Du erlebt hast und weil Du noch nicht so bist, wie Du gerne sein möchtest. Ich sollte denken, dass Du schon alles kannst, dass Du schon erwachsen bist. Deshalb wolltest Du auch nie etwas vorlesen.« Manuela (lächelnd): »Ja.« E. H.: »Ich verstehe jetzt Deine Angst. Wir können ja mal sehen, ob Du nicht vielleicht doch etwas lernen kannst, was Du brauchst, um Dich nicht mehr zu schämen. Dafür musst Du natürlich in die Schule kommen.« Manuela: »Doch, ich komme jetzt in die Schule.« E. H.: »Das freut mich. Wenn es Dir noch so schwer fällt, vor den anderen zu lesen, kannst Du mir ab und an allein etwas vorlesen.« (Ich hatte eine Stunde pro Woche für Einzelsituationen zur freien Verfügung). Manuela (erfreut): »Ich verspreche Ihnen, dass ich jetzt immer in die Schule komme. Bestimmt. Ganz bestimmt.« E. H. (lächelnd): »Fein.«

Manuela kam nach diesem Gespräch tatsächlich regelmäßig in die Schule und konnte am Schuljahresende aus pädagogischen Gründen eine Klasse überspringen, so dass sie vom Äußeren her nicht mehr so auffällig war. Manuela benötigte den geschützten Rahmen eines Gespräches und einiger Einzellesestunden, um die Erfahrung von Intimität ohne Missbrauch zu machen, so dass sie ihren Schamkonflikt, den sie vom Elternhaus auf die Klassensituation übertrug, bewältigen konnte.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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