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Deutungen durch den Unterrichtsstoff:

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Der 6-jährige autistische ( Kap. 27) Schüler Holger meiner Klasse in der Sonderschule für Geistigbehinderte aß fast nur Pfannekuchen und trank lediglich Kakao. Er aß weder Obst noch Gemüse. Wurde er aufgefordert, andere als die gewohnten Speisen zu essen, reagierte er mit heftigen Todesängsten. Um ihn vor Angstüberflutung zu schützen, tolerierte ich anfangs seine Vermeidungshaltung. Nach etwa 11/2 Jahren sprach er selbst häufiger vom Essen und so beschloss ich, das Thema aufzugreifen. Ich führte eine Unterrichtseinheit zum Thema Ernährung mit den Materialien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung durch. Diese Materialien enthielten die Geschichte der »kleinen Lok, die alles weiß«. Diese Lokomotive bringt Kinder in ein Ferienlager, wo sie feststellen, dass ihr Essen vergessen wurde. Die Lokomotive fragte die Kinder, welche Speisen sie holen soll. Die Kinder bestellten Süßigkeiten, die Lokomotive kam aber vollgeladen mit den verschiedenen Ernährungsbausteinen zurück. In einem Wagen befanden sich Obst und Gemüse, im nächsten Fette etc. Während der nächsten Unterrichtsstunden hängten die Schüler die Bilder mit den Wagen auf, ordneten Lebensmittel den Wagen zu und stellten ausgewogene Speisepläne für den Tag zusammen. Als Hausaufgabe sollten die Schüler ankreuzen, aus welchen Wagen sie tagsüber Nahrung zu sich genommen hatten. Die Bedeutung einer ausgewogenen Nahrung wurde den Schülern handelnd und kognitiv vermittelt.

Für Holger war die Unterrichtseinheit eine Gratwanderung. Einerseits glaubte er, bestimmte Nahrung bringe Tod, andererseits war die Gefahr aber nun, dass er die Unterrichtseinheit so verarbeitete, dass es lediglich zur Umkehr der Spaltung kam: Wenn er kein Obst und Gemüse isst, muss er sterben. Durch Verbalisierungen versuchte ich, diese Verarbeitung zu verhindern. In der Geschichte symbolisiert die »kleine Lok, die alles weiß«, die freundliche, gute Lehrerin, die ja auch scheinbar alles weiß. Holger arbeitete mit Interesse mit, wurde von mir nicht gedrängt, jetzt unbedingt dies oder jenes zu essen. Er begann von sich aus zu Hause Obst und Gemüse zu essen, als er sah, dass bei ihm bei einigen Wagen immer Leerstellen blieben. Die Inadäquatheit seiner Todesangst wurde ihm durch eigenständige Konfrontation mit der Realität bewusst.

Der Vorteil der Deutung durch den Unterrichtsstoff ist, dass das Kind eine eigene, aktive Auseinandersetzung mit der Realität als drittem Objekt führt. Es entwickelt eigene Deutungskompetenz und Autonomie, was gerade die Selbst-Entwicklung fördert und den fehlenden Dritten einführt. Häufiges Deuten kann die Autonomie des Patienten einschränken. Mertens (1990, S. 109) zufolge ist es unabhängig vom Strukturniveau des Patienten gut, wenn der Analytiker eine wachstumsfördernde Haltung einnimmt. Deutet er zu aktiv, macht er den Patienten abhängig und schränkt vor allem seine autonome Entdeckerfreude sowie die eigene Deutungskompetenz ein. Wenn möglich, sollte deshalb ein Patient dazu ermuntert werden, zu seinen eigenen Deutungen zu kommen, wozu vorbereitende Schritte, z. B. in Form von Fragen, feststellenden Hinweisen und Klärungen von Seiten des Analytikers gehören.

Ich kann gezielt durch die Auswahl des Unterrichtsstoffes solche Deutungskompetenz fördern, meist ereignen sich aber spontan im Unterricht Situationen, in denen das Kind, für den Lehrer unvorhergesehen, einen Unterrichtsstoff für die Verarbeitung seiner Probleme verwendet. Ein 12-jähriger Schüler der Sonderschule für Verhaltensgestörte, der wegen extremer Aggression gegenüber der Grundschullehrerin in die Sonderschule überwiesen wurde, war in meinem Unterricht lange Zeit extrem gehemmt. Als wir im Geschichtsunterricht über die Französische Revolution sprachen und er das Bild der Guillotine im Buch sah, war er hochgradig erregt, malte in den nächsten Wochen täglich eine Flut von Bildern, auf denen ich unter der Guillotine lag und der Kopf gerade in den Korb fiel. Mit rotem Stift malte er Aufschriften auf das Bild wie: Der Tod der Frau Heinemann. Seine Kastrationsängste konnten jetzt in der Übertragung bearbeitet werden. Ein anderes Beispiel ist die Geschichte von Sebastian (Heinemann 2003), der über das Sehen des Filmes »101 Dalmatiner« von Walt Disney mit der ganzen Klasse sein Trennungstrauma spielerisch und handelnd im Unterricht bewältigte.

Diese Beispiele mögen einen Eindruck vermitteln, wie wichtig es im pädagogischen Alltag ist, die Konflikte der Kinder zu verstehen und über die wachstumsfördernde Einstellung eine pädagogische Haltung zu erlangen, die unbewusste Prozesse reflektiert und nicht abwehrt. Von einer solchen Praxis profitieren nicht nur die Kinder, sondern auch die Pädagogen selbst, denn der Alltag wird durch die psychoanalytische Reflexion des Geschehens auch zu einer Erforschung des Unbewussten, des eigenen wie des fremden. Wir hoffen, mit diesem Buch einen kleinen Beitrag für eine solche Praxis leisten zu können. »Die bewusste Anwendung massenpsychologischer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der Psychoanalyse können … dem Lehrer im Amt brauchbare Hilfen bei der Disziplinierung, Leitung und Förderung einer Schulklasse geben und so aus Krise und Kampf zu friedlicher, allseitig aufbauender Arbeit verhelfen« (Jordan 1929, S. 124). Neuere Beispiele einer gelungenen psychoanalytischen Pädagogik finden sich bei Heinemann und Hopf (2010).

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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