Читать книгу Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann - Страница 30
Gespräche vor der Klasse:
ОглавлениеFlorian war ein Schüler, der anfangs durch sein Übergewicht und sein aggressives Verhalten sowie seiner extremen Lese- und Schreibschwäche Außenseiter war. Er konnte kaum an einem Schüler vorbeigehen, ohne diesen zu boxen. Da er kaum lesen und schreiben konnte, wurde er oft verspottet, was seine Aggression erhöhte. Im Unterricht regredierte er. Er spielte mit Spielzeugautos und rannte bellend durch das Klassenzimmer. Im Gefühl, Hund zu sein, legte er sich auf den Boden, knurrte und biss sogar gelegentlich einen Schüler, was sofort einen Tumult hervorrief. Versuchte ich mit ihm zu reden, bellte er nur als Antwort. Vorsichtig verbalisierte ich sein Verhalten: Er wolle lieber spielen, Hund sein, als lernen zu müssen und erwachsen zu sein. Sein Bellen hörte erst auf, als ich ihm immer wieder kleine Sonderaufgaben im Lesen und Schreiben gab, was ihn freute. Erfreut meinte er einmal, dass er mir etwas zu Ostern schenken wolle. Die anderen Schüler reagierten aggressiv auf die Sonderaufgaben, ich versuchte ihnen aber zu vermitteln, dass es nicht bedeute, dass ich Florian lieber habe, sondern dass er diese Aufgaben brauchte, um besser lesen und schreiben zu lernen. Seine orale Aggression wurde sehr schön deutlich, als ich mit den Schülern in der Schülerbibliothek war, und Florian sich ein Buch über Fische, die Menschen fressen, ausleihen wollte. Als Florian erstmals von einer Kollegin zum Lesekurs abgeholt werden sollte, sprang er entsetzt auf und fauchte mich an: »Gell, das haben Sie verbrochen!« Bellend, knurrend und wild grimassierend ging er schließlich mit. Als er zurückkam, verbalisierte ich im Einzelgespräch seine Ängste, dass er das Gefühl gehabt habe, ich gebe ihn weg, weil ich ihn vielleicht nicht mehr gern hätte und nicht, damit er besser lesen lerne. Das Verbalisieren seiner Ängste reichte aus, ihn wieder zum Sprechen zu bringen. Er erzählte in der nächsten Stunde viel von seinen Hunden zu Hause und lud mich ständig zu seinem Geburtstag ein.
Wenige Tage später kam er morgens völlig aufgelöst und aggressiv in den Unterricht. Er rannte durch das Klassenzimmer, zog Schülern die Stühle weg, boxte und bellte. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und die Schüler auch, was schon eine enorme Leistung war und die Identifikation mit der verstehenden Haltung des Lehrers zeigte. Ich verbalisierte: »Florian, Du bist heute Morgen sehr wütend. Kannst Du uns nicht sagen, warum Du so wütend bist?« Anstelle einer Antwort rannte er auf mich zu, stand mit drohenden Händen, verzerrtem Gesicht, wild knurrend und bellend vor mir. Ich fragte wieder: »Du bist jetzt auch sehr wütend auf mich. Kannst Du nicht sagen, warum?« Völlig unzugänglich rannte er weiter im Klassenzimmer herum. Ich nahm meinen Stuhl, setzte mich frontal zur Klasse und sagte ruhig: »Florian, ich habe den Eindruck, dass Du – vielleicht zu Hause – etwas sehr Unangenehmes erlebt hast.« Er zuckte sichtlich unter meiner Bemerkung zusammen, setzte sich auf seinen Platz und erzählte mit Tränen in den Augen: »Frau Heinemann, meine Maus, die Tina, ist mir gestern weggelaufen. Die läuft jetzt in der Wohnung rum und ich finde sie nicht.« Die anderen Schüler hörten gespannt zu. Ich sagte: »Du hast das Gefühl, etwas sehr Wertvolles verloren zu haben. Du hast auch oft Angst, mich zu verlieren, vielleicht hast Du ja schon einmal die Erfahrung gemacht, etwas sehr Wichtiges verloren zu haben. (Pause) Und weil Du so unglücklich bist, ärgerst Du die anderen Kinder.« Florian war erleichtert und sagte, dass er mir die Maus malen wolle, worin ich ihn bestärkte. Die Schüler konnten erleben, dass jemand einen Grund hat, wenn er sich so verhält. Diese Erfahrung versuchte ich ihnen bewusst zu machen. Florian war inzwischen mit seiner Zeichnung fertig und übergab sie mir. Ich zeigte das Bild der ganzen Klasse. Es war beeindruckend, mit welchem Eifer Florian den Rest des Vormittags mitarbeitete. Der Verlust der Maus hatte seinen zentralen Konflikt, den Verlust der Mutterliebe, reaktiviert. Durch eine orale Regression (Übergewicht) und Identifikation mit den von der Mutter heiß geliebten Hunden suchte er diese wiederzugewinnen. Das Malen der Maus ermöglichte ein Stück Verarbeitung, nämlich dass etwas, das verloren ist, symbolisch präsent bleiben kann. Bis zu einem gewissen Grad von Intimität sind genetische Deutungen auch in den Gesprächen mit der Klasse möglich, intimere Erlebnisse erfordern selbstverständlich den Schutz des Einzelgespräches.