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4.2 Die Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik
ОглавлениеDie Zeit von 1920 bis 1938 gilt als die Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik, wobei die Zeit bis 1932 von uneingeschränktem Optimismus zeugt, das Kind mit Hilfe der Psychoanalyse befreien zu können und Neurosenprophylaxe durch eine an der Psychoanalyse orientierte Erziehung betreiben zu können. »Eine diesen Lehren entsprechende rationellere Kindererziehung wird einen großen Teil der drückenden psychischen Lasten wegräumen« (Ferenczi 1908, S. 17). Zu Beginn war das Engagement der psychoanalytischen Pädagogen für die Befreiung des Kindes von der Leugnung und Unterdrückung seiner Sexualität, von der Missachtung seiner affektiven und sozialen Bedürfnisse und seiner Ansprüche auf Selbstverwirklichung gekennzeichnet. 1932 setzte dann eine kritische Sichtung von Missverständnissen und übersteigerten Hoffnungen ein und führte zur Revision der psychoanalytischen Pädagogik, die 1937 in einem Symposium in Budapest zu diesem Thema ihren Höhepunkt fand. Im Zuge der Revision wurde nun gewarnt, vor lauter Verstehen müssen das natürliche Benehmen zu verlieren, und es wurde die wichtige Rolle der Versagungen für die kindliche Entwicklung hervorgehoben (Bornstein-Windholz 1937). Die pädagogische Zielsetzung verschob sich von der Befreiung des Kindes zu einer an Ich-Stärkung gerichteten positiven Erziehungslehre. Dieser Wechsel vollzog sich parallel zur Etablierung der Ich-Psychologie innerhalb der psychoanalytischen Theorie (Füchtner 1979). Die psychoanalytische Pädagogik entwickelte in ihrer Blütezeit drei Schwerpunkte, nämlich den Bereich der Kindertherapie ( Kap. I.5), den der Heimerziehung mit verwahrlosten und elternlosen Kindern mit den bedeutenden Erziehungsversuchen von Wera Schmidt, August Aichhorn und Sigfried Bernfeld sowie den Bereich der Anwendung in der Schule, hier ist vor allem Hans Zulliger zu nennen.
Die Psychoanalytiker, die zugleich Pädagogen waren, hatten einen neuen Anwendungs- und Forschungsbereich geschaffen, die Kindertherapie. Mit Ausnahme von Melanie Klein haben die Pioniere der Kinderanalyse – Anna Freud, Nelly Wolffheim, Hermine Hug-Hellmuth, Hans Zulliger – dem pädagogischen Engagement des Psychoanalytikers in der Kindertherapie einen festen Platz zuerkannt. Vor allem in der Ausarbeitung der Kinderanalyse durch Anna Freud sind die Einflüsse der Sozialarbeit und Pädagogik der Entstehungszeit anzumerken. Sie begründet die pädagogische Dimension der Kinderanalyse mit der Unfertigkeit des Kindes und der Unselbständigkeit des Über-Ich. Das Über-Ich des Kindes müsse sowohl durch die Therapie korrigiert als auch durch Schaffung neuer Eindrücke in der Erziehung beeinflusst werden. »Die Arbeit am kindlichen Über-Ich aber ist eine doppelte: analytisch in der historischen Zerlegung von innen her, soweit das Über-Ich schon Selbständigkeit erlangt, aber außerdem erzieherisch beeinflusst von außen her durch Veränderungen im Verhältnis zu den Erzieherpersonen, durch die Schaffung neuer Eindrücke und durch die Revision der Anforderungen, die von der Außenwelt an das Kind gestellt werden« (A. Freud 1926, S. 96). Bittner (1967, S. 183 ff.) zeigt auf, dass Anna Freud die pädagogischen Elemente der Therapie in späteren Arbeiten nicht mehr als pädagogische reflektieren wollte. Auch sie unterlag dem Sog der Abgrenzung und, damit auch meist verbunden, der Abwertung der Pädagogik.
Die Versuche einer psychoanalytischen Heimerziehung waren revolutionär, scheiterten aber nach meist nur wenigen Jahren an den institutionellen und gesellschaftlichen Widerständen. Wera Schmidt (1923) gründete 1921 in Moskau ein Heim für dreißig Kinder im Alter von 1–5 Jahren, die unter psychoanalytischen Bedingungen erzogen werden sollten. Darunter verstand sie vor allem keine Strafen und Triebfreiheit in oraler, analer und prägenitaler Hinsicht. Durch Bereitstellung von geeigneten Materialien wie Sand, Ton, Wasser und Farben sollten die Erzieherinnen die Sublimierung fördern und keine Unterwerfung der Kinder unter von außen auferlegte Beschränkungen zulassen.
Siegfried Bernfeld (1921) war von August 1919 bis April 1920 Direktor des jüdischen Kinderheims Baumgarten in Wien. In Kindergarten, Schule und Heimleben waren 300 Kinder beiderlei Geschlechts im Alter von 3–16 Jahren untergebracht. Im Grunde ist der Bericht Bernfelds die Beschreibung eines reformpädagogischen Konzeptes, eine psychoanalytische Reflexion oder ein Verstehen der Kinder aus psychoanalytischer Sicht im engeren Sinne ist bei Bernfeld nicht zu finden. Für ihn war es ein großes Anliegen, die Machtstrukturen im Heim zu verändern, den Kindern Ausgang zu ermöglichen, ohne dass sie wie bisher lügen mussten. Sie sollten aufrichtig sagen können, dass sie ins Kino gehen wollen. Auch die Erfindung eines eigenen Gerichtes anstelle der Pädagogenautorität folgt letztendlich reformpädagogischen Ansätzen. Psychoanalytische Pädagogik wird hier noch ganz rudimentär als Respekt vor und Anerkennung der Würde des Kindes verstanden. Begriffe wie Übertragung, Es, Ich und Über-Ich sind hier nicht zu finden.
August Aichhorn (1971) entwickelte seine Erziehungslehre in den österreichischen Fürsorgeerziehungsanstalten von Oberhollabrunn und St. Andrä, die er von 1918 bis 1922 leitete. Bereits 1925 erschienen seine grundlegenden Gedanken in dem Buch »Verwahrloste Jugend«, zu dem Freud das oben zitierte Vorwort schrieb. Zu einer Zeit, als Besserungsanstalten militärähnlich wie Arbeitslager organisiert waren, sprach er von der Nutzlosigkeit des reinen Zwangs zur Anpassung mittels Lob und Strafe. Er wollte Verwahrlosungserscheinungen auf ihre Ursachen zurückführen und so zu beheben suchen. Unbewusste Motive der Verwahrlosung sollten mit Hilfe der Psychoanalyse verstanden werden. Zunächst müsse das große Defizit an Liebe ausgeglichen werden und erst dann, nach und nach, sehr vorsichtig mit stärkerer Belastung vorgegangen werden. Anfangs konnten die Kinder ihre Aggressionen hemmungslos entladen, die Erzieher sollten durch Nichtbeachtung und gewaltlose Reaktionen nicht der Provokation der Kinder erliegen. Die Phase des Wutweinens, die diesen Reaktionen der Erzieher folgte, sah Aichhorn als Wendepunkt in der Entwicklung der Kinder. »Wenden nun die Erzieher verschärfte Zucht an, so machen sie es wie die anderen, mit denen die Kinder in Konflikt stehen, und der ohnehin vorhandene Gegenimpuls muss sich verstärken, die Verwahrlosung vertiefen, statt behoben zu werden« (ebd., S. 147). Obwohl Aichhorn an der Triebtheorie orientiert war, sah er im Gegensatz zu Wera Schmidt, die aber auch ein anderes Klientel betreute, die wichtige Rolle der Versagungen. Aufgabe der Erziehung war nach Aichhorn, das richtige Maß an Versagungen zu vermitteln (ebd., S. 178). Diese Versagungen konnten aber erst einsetzen, wenn die Kinder und Jugendlichen eine positive Beziehung zu den Erziehern aufgebaut hatten. Das wichtigste Hilfsmittel war, ähnlich wie bei Anna Freud, die positive Übertragung, die durch ein lustbetontes Milieu und die liebevolle Haltung der Erzieher hergestellt werden sollte. Die Erzieher sollten sich als Objekt der Identifizierung anbieten und so eine Veränderung des Ich-Ideals bewirken. Voraussetzung der Identifizierung war die libidinöse Besetzung der äußeren Objekte, d. h. der Erzieher.
Für den Bereich der Schule gab es eine angeregte Diskussion in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik. Zulliger (1930a,b; 1936) sah psychoanalytische Pädagogik als eine Erziehungsweise, die auf dem psychoanalytischen Verständnis der Kinder in ihrer Eigenschaft als Einzelindividuen und als Masse sowie auf dem Verständnis der Erzieherreaktionen beruht. »Die praktische Auswertung der massenpsychologischen Erkenntnisse, die tieferen und dynamisch erfassten und in die Tat umgesetzten Zusammenhänge der Psyche des Massen- und des Führerindividuums, wie Freud sie uns gab, ist die psychoanalytische Pädagogik wie wir sie in der Schule betreiben können« (ebd., 1930a, S. 50).
Zulliger charakterisiert die Aufgaben des Lehrers neben der Wissensvermittlung als ein bewusstes Umgehen mit der durch die Übertragung entstandenen Bindung der Schüler. Da er das Lehrer-Schüler-Verhältnis als das eines Führers zur Masse beschreibt, gilt seiner Meinung nach auch die Massenübertragung. Einig war man sich, dass Übertragungen in der Schule stattfinden und dass es Aufgabe des Lehrers ist, diese richtig zu handhaben. Kuendig hebt hervor, dass Sublimierungsleistungen in hohem Maße von der positiven Einstellung zum Lehrer abhängig sind. »Sie (die Leistungen, E. H., H. H.) sind, von der rein intellektuellen Stufe abgesehen, in hohem Maße von ihrer seelischen Einstellung dem Lehrer gegenüber oder wie der Analytiker sagt: von der gesamten Übertragung auf den Lehrer abhängig« (1927/28, S. 73). Damit die Übertragung nicht an Intensität verliert, ist es nötig, dass der Lehrer möglichst viel und in verschiedenen Fächern als Klassenlehrer in der Klasse unterrichtet. Zulliger forderte bereits eine eigene Analyse des Pädagogen, damit nicht die Konflikte des Lehrers im Unterricht agiert werden. Yates (1931) untersuchte an drei Fällen, wie unerledigte Konflikte des Lehrers sein Verhalten in der Schule bestimmten.
Zulliger (1921; 1928) beschreibt, wie beeindruckend es sei, wenn Kinder ihre Hemmungen fallen lassen, wenn sie spüren, dass der Lehrer nicht richten will, sondern verstehen. Wichtiges Mittel sind dabei kleine Besprechungen im Unterricht. So betrat einst ein Schüler Zulligers wiederholt »aus Versehen« den Klassenraum Zulligers, obwohl er in eine andere Klasse versetzt worden war. Auf die Frage Zulligers, warum er sich so schlecht merken könne, dass er jetzt in einer anderen Klasse sei, antworteten die Schüler nach einigen Überlegungen, dass er wohl gerne in der Klasse bleiben wolle. »Solche kleinen Besprechungen sind dazu angetan, die Schüler auf sich selber aufmerksam zu machen. Haben sie erst einmal die oberflächlichsten Hemmungen überwunden, so antworten sie meist … mit verblüffender Offenheit, wie es der Schulmeister nicht gewohnt ist von Leutchen, die ihn gewöhnlich als den natürlichen Feind betrachten« (1921, S. 7). Als weitere Möglichkeiten gibt Zulliger freie Aufsätze der Schüler an, die nicht benotet, in Gegenwart des Kindes gelesen und kommentiert werden. Je nach Problemlage finden Einzelgespräche nach dem Unterricht statt. Traumdeutungen nach der Reizwortmethode, Interpretationen des Unbewussten und Provokation von Massengeständnissen sind bei Zulliger weitere Hilfsmittel.
Ein Beispiel aus Zulligers Arbeit: Zulliger (1926/27) erhielt eine neue Schülerin namens Bertha. An ihrem 2. Schultag behielt er sie in der Klasse zurück, um sie zu testen. In den folgenden Tagen hetzte nun eine Schülerin die anderen Mädchen gegen die neue Mitschülerin auf. Es entstand ein heftiger Mädchenstreit. Zulliger ließ die Klasse einen freien Aufsatz schreiben. Während die anderen Schülerinnen von den Streitereien schrieben, schilderte die Schülerin, welche zum Streit anstiftete, einen Traum, den sie vorangegangene Nacht träumte. Sie träumte, sie hätte eine Puppe aufgeschnitten. Da nur Holzwolle heraus kam, schmiss sie die Puppe weg. Die Mutter wollte ihr eine neue Puppe kaufen. Sie aber antwortete: »Ich habe keine Freude an mehr Puppen«. Zulliger führte nach dem Unterricht ein Gespräch mit dem Mädchen über diesen Traum. Es stellte sich heraus, dass die Mutter schwanger war und das Mädchen einen heftigen Neid auf das zu erwartende Geschwisterchen hegte. Im Traum untersuchte sie symbolisch das Innere der Mutter. »Keine Freude an mehr Puppen« ist ein Versprecher – es müsste eigentlich »keine Freude mehr an Puppen« heißen – und bedeutet, dass sie keine Freude an mehr Geschwistern hat. Den Hass auf das neue Geschwisterchen verschob sie auf die Mitschülerin. Die Angst, die Liebe der Mutter zu verlieren, führte aufgrund der Übertragungssituation zur Angst, die Aufmerksamkeit des Lehrers zu verlieren, aktualisiert durch die erhöhte Aufmerksamkeit, die der Mitschülerin durch die Testsituation zuteil wurde. Die Deutung Zulligers bewirkte ein sofortiges Ende des Streites und die Integration der neuen Schülerin.
Auch Kuendig (1927/28) berichtet in zahlreichen Beispielen anhand kleiner Vorkommnisse, Beobachtungen, freier Aufsätze, von den Schülern freiwillig abgegebenen Einfällen und Deutungen von Träumen über die psychische Einstellung der Klasse und derjenigen einzelner Schüler. Einzelgespräche mit dem Schüler sind bei ihm ebenfalls wichtige Hilfsmittel, wichtiger jedoch seien die Gespräche in der Klasse, die der Verarbeitung von Konflikten dienen.
Homburger (1930), der später in den USA als Erik H. Erikson bekannt wurde, sowie Buxbaum (1931) zeigen die Bedeutung sogenannter Fragestunden auf. Während Homburger Fragestunden außerhalb des Unterrichts mit einzelnen Schülern durchführte, bezog Buxbaum die Fragestunden in den Unterricht ein. Die Schüler durften in solchen Stunden fragen, was sie wollten, meist drehten sich die Fragen um sexuelle Probleme. Homburger zeigte auch die Möglichkeit auf, durch das In-Beziehung-Bringen von Unterrichtsstoffen zu den Gefühlen der Kinder die Gefühle der Kinder durchzusprechen und zu verarbeiten. So wurden Erfahrungen von Wut der Kinder besprochen, als sie im Geschichtsunterricht den Flug Amundsens durchnahmen, der trotz großer Wut auf Nobile sich während des Fluges beherrschte. Homburger (1931) verwandte auch die Methode der freien Aufsätze für das Erfassen der seelischen Situation des Kindes.