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Übertragung und Widerstand:

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Übertragungen finden in der pädagogischen wie therapeutischen Situation gleichermaßen statt. Es ist wichtig sie wahrzunehmen, ohne sie immer direkt vor der Klasse deuten zu müssen. Als ich die Klasse einer Sonderschule für Lernbehinderte übernahm, sangen in der ersten Stunde Rainer und Paul, während sie kichernd zu mir hinsahen: »Ich bin ja so verliebt, ich bin ja so verliebt.« Paul gab mir denn auch kurz nach Beginn des Unterrichts zwei Zettel mit der Aufschrift: »Heinemann, ich liebe Sie. Sie kriegen einen heißen Kuss« und: »Ich liebe Sie, Heinemann, Paul.« Anna zeichnete mich sogleich und schenkte mir das Bild mit der Bemerkung: »Sie sind gar keine Frau, sondern ein Mann.« Erstaunt fragte ich: »Du meinst, ich sei ein Mann?« Lächelnd antwortete sie: »Ja, Sie heißen doch Heine-mann.« Myriam flüsterte mir zu, dass sie sich am Samstag genau den gleichen Mantel, wie ich ihn habe, kaufen wolle. Meist äußern sich die Übertragungen versteckter und zurückhaltender und werden erst im Laufe der Zeit deutlicher.

Wir haben es aber auch mit Widerstand zu tun. Die gleiche Klasse war die erste Woche extrem schwierig, ständig gab es Raufereien, viele Schüler weigerten sich, mitzuarbeiten. Vor allem eine Inszenierung machte mich sehr wütend. Paul und Rainer, aber gelegentlich auch andere Schüler, provozierten mich, indem sie immer wieder zum Fenster rein und raus sprangen, der Klassenraum lag im Parterre. Hin und wieder warfen sie Gegenstände aus dem Fenster – meist solche von anderen Schülern, um unter dem Vorwand, diese wieder holen zu müssen, erneut aus dem Fenster zu klettern. Nach einigen Tagen versuchte ich den Schülern den zugrunde liegenden Ambivalenzkonflikt bewusst zu machen. Rainer und Paul, die ja am ersten Tag schon eine starke positive Übertragung zeigten, waren bezeichnenderweise auch diejenigen, die den heftigsten Widerstand zeigten. Nachdem Paul nach einer solchen Kletterpartie wieder auf seinem Platz saß, sagte ich betont ruhig zu ihm gewandt, dass er wohl so oft aus dem Fenster rein und raus klettern müsse, weil er sich nicht entscheiden könne, ob er in der Klasse bleiben wolle oder nicht, vielleicht auch, weil er sich nicht entscheiden könne, ob er die neue Lehrerin wolle oder nicht. Die Bemerkung traf ihn sichtlich und der Erfolg war, dass schlagartig kein Schüler mehr zum Fenster rein und raus kletterte. Das innere Thema war aber noch nicht bearbeitet, sondern nur angesprochen, es musste aber nicht mehr agiert werden.

Zwei Monate später bekam ich einen neuen Schüler, Markus. Die Schüler waren außer sich, schrien, tobten und trommelten auf den Tischen. Der Neue solle abhauen, der würde nur angeben und sei still. Vor allem Anna war ganz aufgelöst. Sie heulte fast und schrie, dass sie nicht mehr in die Schule komme, wenn der Neue bleibe. Ich versuchte, ruhig zu bleiben und die Gefühle der Schüler zu verbalisieren. An Unterricht war den ganzen Vormittag nicht mehr zu denken. Ich fragte Markus nach seinen Leistungen. Als Florian, der Schwächste in Lesen und Schreiben, hörte, dass Markus kaum schreiben könne, setzte er sich neben ihn und sagte erfreut: »Du bist mein Freund. Frau Heinemann, der Markus ist mein Freund.« Der Vormittag endete fast damit, dass die Schüler den Klassenraum demolierten. Ich behielt Markus nach dem Unterricht zurück, die Situation schien ihn aber nicht so sehr zu belasten, im Gegensatz zu mir, denn ich machte mir den ganzen Nachmittag und Abend Sorgen. Umso erstaunter war ich, dass ich die ganze Nacht gut geschlafen hatte, was in der vorherigen Zeit nicht der Fall war. Die Anfangsschwierigkeiten mit der Klasse belasteten mich sehr. Irgendetwas musste sich verändert haben, auf das mein Unbewusstes reagierte. Als ich am nächsten Morgen in der Schule vorfuhr, stand die halbe Klasse auf dem Parkplatz und Myriam hatte einen Blumenstrauß für mich in der Hand. Sie entschuldigte sich für ihr Benehmen. Erst jetzt wurde mir klar, was sich ereignet hatte. Die Klasse hatte das Problem, eine neue Lehrerin zu bekommen, mit dem Schüler reinszeniert. Der Konflikt wurde dargestellt, auf den neuen Schüler verschoben. Durch das Besprechen konnten Gefühle von Ambivalenz, Aggression über Verlust und Angst vor der Schwäche des neuen Lehrers, die Aggression der Klasse nicht auszuhalten, durchgearbeitet werden, ohne dass genetische Deutungen bezüglich der Elternhäuser der Schüler nötig waren.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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