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5.6 Ausblick – Brauchen wir andere Behandlungstechniken?

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Wir stellen fest, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund veränderter soziokultureller Verhältnisse erheblich gewandelt haben: Externalisierende Störungsbilder (hyperkinetische Störungen und Störungen des Sozialverhaltens) gehören mittlerweile zu den am häufigsten diagnostizierten Auffälligkeiten bei männlichen Kindern und Jugendlichen. Es kommt häufiger zu Störungen der Symbolisierung sowie der Mentalisierung. Hierzu gehören auch die hyperkinetischen Störungen. Externalisierende Störungen nehmen zu, auch weil der gesellschaftliche Rahmen nicht ausreichend haltend und begrenzend ist. Reale Angst und Scham scheinen sich rückzubilden. Viele Väter sind zunehmend »unsichtbar« und besitzen keine ausreichende triangulierende Funktion. Die Jungen geraten zunehmend in Schwierigkeiten mit ihrem Umfeld. Ihre Kommunikationsfähigkeiten sind störanfälliger – es zeigen sich bei ihnen durchgehend höhere Raten von hyperkinetischen Störungen, von dissozialen Störungen, Störungen durch Substanzgebrauch sowie monosymptomatische Störungen wie Tics und Enkopresis (Ihle und Esser 2002). Viele Kinder, die heute in analytische Psychotherapie kommen, haben neben Symbolisierungsstörungen auch Spielstörungen. Sie erleben Spielen nicht symbolisch, nicht überwiegend »als ob« und in einem Zwischenbereich von Fantasie und Realität angesiedelt (Streeck-Fischer 2006). Das Spiel kann bei ihnen leicht konkretistisch, real werden und blitzschnell aus der Kontrolle und in einen bitteren Ernst geraten. Diese und die zuvor erwähnten Tatsachen schaffen erhebliche neue behandlungstechnische Probleme.

Symbolisierungsfähigkeit macht es einem Kind möglich, Trennungen samt dazugehörenden Unlustgefühlen auszuhalten. Die Fähigkeit zum Symbolisieren entwickelt sich bekanntlich von der symbolischen Gleichsetzung, über das Übergangsobjekt hin zu einem reifen symbolischen Verstehen. Symbolbildung, eng mit der Sprachentwicklung verknüpft, strukturiert die innere Welt des Kindes und erlaubt eine zunehmende Unabhängigkeit von realen äußeren Objekten. Sie schafft die Möglichkeit, intermediäre Räume für Denken und Fantasieren zu nutzen, um Bedürfnisse aufschieben zu können. Mit Mentalisierung bezeichnen Fonagy u. a. (2001; 2002) die Fähigkeit, sich selbst und einen anderen Menschen als ein Wesen mit geistig-seelischen Zuständen zu begreifen. Dem Kind wird bewusst, dass es ein Bewusstsein hat; es erkennt, dass es ein Lebewesen unter vielen ist; und es wird fähig zu symbolischem und kreativem Denken. Besitzt ein Kind Mentalisierungsfähigkeit, so kann es sich in einen anderen Menschen einfühlen, kann mit ihm leiden und ihm beistehen. Es hat im Sinne von Winnicott die Fähigkeit zur Besorgnis erworben.

Mit dem von Fonagy u. a. (2002) entwickelten spielerischen »Markieren« wurden neue Möglichkeiten entwickelt, einem Kind zu bedeuten, dass seine Externalisierung »nicht real« ist: »Wissende Blicke, ein leichtes Neigen des Kopfes, eine hohe Tonlage oder betont langsames Sprechen, eine übertriebene Intonationskontur, eine angedeutete, verkürzte oder nur partielle Ausführung von Handlungsschemata und der Gebrauch unsichtbarer imaginärer Objekte – all dies sind klare und auffällige Signale, an denen das Kind erkennt, dass sich der Als-ob-Ausdruck kategorial von seinem realistischen Pendant unterscheidet – das heißt, ›nicht wirklich‹ ist« (ebd., S. 299).

In der aktuellen kinderanalytischen Literatur werden eher selten Fragen zur Behandlungstechnik bei ambulanten Psychotherapien von externalisierenden Störungen, also von hyperkinetischen Störungen und Störungen des Sozialverhaltens, diskutiert. In der Vergangenheit waren es vor allem Autoren, die Erfahrungen mit traumatisierten Kindern und dissozialen Patienten hatten, wie etwa Diepold (2005), Bettelheim (1997), Cohen (2004), Alvarez (2001), Hurry (2002), Rauchfleisch (2003) und Streeck-Fischer (2006).

Es können zwei zentrale Positionen innerhalb der Psychoanalyse und ihren Schulen beschrieben werden: Arbeit an Beziehung und Übertragung sowie Arbeit an Struktur und Rahmen. Anne Alvarez (2001) hat mit dem folgenden Zitat eine schöne Brücke zwischen den beiden Polaritäten geschlagen: »Mutiges und aufnahmebereites Zuhören, aber auch eine feste, nicht zu stark masochistische Einstellung gegenüber den vielleicht furchtbaren Projektionen des Kindes – d. h. gegenüber dem verzweifelten Bedürfnis des Kindes, uns das anzutun, was seinem Gefühl nach ihm angetan wurde – scheinen in der Tat zu helfen« (ebd., S. 21). Alvarez betont aber auch, dass Verlässlichkeit, Regelmäßigkeit des Settings und eine feste Struktur der psychoanalytischen Technik erst Entwicklung von psychischer Struktur ermöglichen. Das bedeutet, dass ein produktiver Prozess immer eines stabilen Rahmens bedarf, damit Beziehungen internalisiert werden können (Hopf 2006).

Damit unterstreicht Alvarez aber auch die Bedeutung des Containments. Bion (1990) beschrieb in Anlehnung an Melanie Kleins Theorien eine frühe Form von Kommunikation über projektive Identifizierung. Das Kind kann auf diese Weise namenlose Ängste, bedrückende Gefühle, generell Unaushaltbares in die Mutter projizieren. Sind die Bedingungen gut, so ist die Mutter in der Lage, diese Gefühle umzuwandeln und sie dem Kind in vertrauter und erträglicher Form zurückzugeben. Dies führt dazu, dass das Kind auf diese Weise die Container-Funktion verinnerlicht. Bion hat mit seinem Container/Contained-Modell dieses Konzept erweitert. Bei jenen Kindern mit strukturellen und Symbolisierungsstörungen sollte innerhalb der psychoanalytischen Therapie solch eine Beziehung etabliert werden, die es dem Patienten langfristig ermöglicht, zu fantasieren, symbolisieren und zu träumen (vgl. Eskalinen du Folch 1991; Bovensiepen 2007). »Wenn das Kind spürt, dass der Analytiker seine Mitteilungen versteht, dann introjiziert es einen Analytiker, der die unerträglichsten Gefühle auszuhalten, zu betrachten, zu reflektieren und über sie zu sprechen vermag« (Eskalinen du Folch 1991, S. 278).

Es war immer Aufgabe von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, BehandlungstechnikenBehanlungstechniken neu zu überdenken und zu modifizieren, damit auch Kinder mit strukturellen Defiziten, mit Symbolisierungs- und Spielstörungen psychoanalytisch behandelbar werden. Wir wollen mit einem weisen Satz von Anna Freud schließen, der hinsichtlich der Flexibilität von psychoanalytischen Techniken hoffen lässt: »Die Wege und Mittel der Therapie in der Kindheit sind so zahlreich, wie die auf dem Entwicklungsweg erworbenen Störungen und so verschieden voneinander, wie die verschiedenen Anteile der kindlichen Persönlichkeit« (Sandler, Kennedy und Tyson 1982, S. 210).

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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