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Elternarbeit:

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Als Lehrerin hat man sicher nicht die Zeit, die man sich für eine Elternarbeit wünscht. In der Regel sind nur sporadisch Besuche bei den Eltern möglich, die aber immer die Chance für ein genetisches Verständnis der psychischen Probleme der Schüler bieten. Ich möchte zwei Beispiele anführen.

Ich fuhr mit Paul zu seinen Eltern. Auf der Fahrt konnte ich mit ihm ein Einzelgespräch führen. Ich fragte ihn, warum er in der Schule immer so nervös sei, worauf er meinte, dass er nachts schlecht träume. An die Träume könne er sich nicht erinnern, aber er wache morgens mit schlechter Laune auf, ärgere deshalb seine Mutter und so gäbe es immer Krach. Daran müsse er in der Schule immer denken und dann könne er nicht aufpassen. Er fasste während des Gespräches Vertrauen und begann dann doch nach und nach von seinen Träumen zu erzählen. Er träume, dass er seine Rechenaufgaben nicht könne und Herr R., sein Rechenlehrer, am nächsten Tag dann fürchterlich mit ihm schimpfe. In diesem Augenblick erwache er.

Dieses Gespräch teilte mir mit, worauf ich mich im Elterngespräch zu konzentrieren hatte. Im Traum hatte Paul offensichtlich Konflikte mit seinem Vater auf Herrn R. übertragen. Es galt nun, das Verhältnis zum Vater zu verstehen.

Bei den Eltern wurde ich freundlich ins Wohnzimmer gebeten, die Mutter kochte und der Vater unterhielt sich mit mir. Er erzählte mir sogleich, dass er schon viel lernen musste, denn er habe eine Umschulung hinter sich. Er sei 100 % erwerbsunfähig geworden. Er mache jetzt mit den Kindern Hausaufgaben, weil er sonst nicht mehr viel zu tun habe. Er zeigte mir einen Stoß Bücher, den er für die Kinder gekauft hatte.

Ich spürte den enormen Druck, den dieser Mann auf seine Kinder ausübte, mit dem er seine eigene Depression bezüglich der Behinderung letztendlich abwehrte. Die Kinder sollten jetzt das leisten, was er nicht mehr kann. Ich sprach aus, dass es für Paul wichtig sei, dass er ohne Druck und Kontrolle seine Hausaufgaben mache und warum er, der Vater, das Gefühl habe, sich aufgrund der Behinderung ausgerechnet um die Hausaufgaben kümmern zu müssen. Wir konnten ein Stück seiner Probleme in der Verarbeitung der Behinderung bearbeiten.

An einem anderen Nachmittag besuchte ich die Mutter von Florian. Nachdem die beiden Hunde auf dem Balkon eingesperrt waren, durfte ich mich ins Wohnzimmer setzen. Florians Mutter war an der Schule sehr interessiert. Ich fragte sie nach Florians Verhalten zu Hause. Sie erzählte, dass Florian, den sie als den »Dicken« bezeichnete, von seinem Vater und dem ältesten Bruder sehr abgelehnt werde. Von beiden bekomme er immer eins drauf. Sie versuche manchmal einzuschreiten, aber der Vater wäre sehr uneinsichtig. Florian quäle dann immer die Hunde, mit denen er auch nie spazieren gehe. Ich fragte: »Weil er von Vater und Bruder schikaniert wird, quält er die Hunde?« Dieser Zusammenhang war ihr offensichtlich bewusst, denn sie meinte nur »Ja, so ist es.« Nun erzählte sie, dass Florian jede Nacht einnässe. Ich fragte, ob Florian schon einmal eine Zeit lang nicht eingenässt habe, da ich für mich klären wollte, ob es eine primäre oder sekundäre Enuresis ist ( Kap. 23). Überrascht schaute sie mich an und sagte: »Da fällt mir ein, dass Florian, als sein Vater neulich eine Woche nicht da war, überhaupt nicht einnässte.« In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass ein Zusammenhang zwischen Florians Enuresis und seiner Angst vor dem Vater besteht. Sie erzählte jetzt viele Einzelheiten der Familie. Plötzlich erschien einer der Hunde hinter der Balkontür. Sie sprang auf, ging zur Balkontür, zog den Vorhang zur Seite und zeigte mir stolz den Hund. In überaus zärtlichem Ton sagte sie, wie zu einem Säugling sprechend: »Ei, da ist er ja, der Gute.« Während sie über den Hund redete, war ihr Tonfall wesentlich herzlicher als wenn sie vom »Dicken« redete. Sie erzählte, dass sie den Hunden manchmal Bratwürste kaufe, damit sie nicht nur Frolic essen müssen. Florian würde dann hinrennen und den Hunden die Bratwurst wegessen. Florian wäre so gierig. Einmal hätte er sich das halbe Ohr abgerissen, als ein Stück Fleisch unter den Schrank fiel und er es unbedingt haben wollte. Ich sagte: »Nun, vielleicht möchte Florian auch so viel Gutes von Ihnen bekommen, wie die Hunde.« Meine Bemerkung traf sie sichtlich. Ihr wurde klar, dass sie über orale Vernachlässigung an Florians Schwierigkeiten Anteil hatte.

Als ich mich verabschiedete, forderte sie mich nachhaltig auf, bald wieder zu kommen. Wie sehr selbst ein einzelnes Gespräch zum Verstehen der Konflikte beitragen kann und bei den Eltern Veränderungen in Gang gesetzt werden können, lässt zumindest die Reaktion von Florians Mutter hoffen. Am folgenden Montag fragte mich Florian, ob ich am Samstag bei ihnen geschellt hätte. Erstaunt fragte ich, wie er denn darauf komme. Er erzählte, dass seine Mutter am Samstag mein Auto vor dem Haus sah. Da dies unmöglich war, sagte ich, dass es ja viele Autos wie meines gebe. »Nein«, erwiderte er, »meine Mutter hat gesagt, dass das Auto Ihre Nummer hatte.« Florians Mutter musste also versucht haben, sich meine Autonummer zu merken und im Sinne einer Wunschprojektion gehofft haben, dass ich am Samstag bei ihnen schelle. Sie bestellte mir durch Florian noch schöne Grüße und dass ich bald wiederkommen solle. Die Bedürftigkeit Florians ist auch bei der Mutter zu spüren. Warum Florian sich manchmal wünscht, Hund zu sein, machte mir der Besuch drastisch klar.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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