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3.4 Narzissmus und Identifikationswechsel

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Die unterschiedliche Lage der männlichen und weiblichen Sexualorgane wird auch weiterhin für Geschlechtsunterschiede herangezogen. Erikson (1966) leitet aus dem Spielverhalten von Jungen und Mädchen ab, dass – parallel zur Anatomie – im weiblichen Erleben der innere Raum im Zentrum der Gefühle steht, bei Knaben dagegen der äußere Raum. Ähnliche Gedanken finden wir heute bei Anzieu (1995). Anzieu betont allerdings mehr die Projektionen und Introjektionen der Fantasien entlang der körperlichen Ausstattungen. Die Mutter habe die Vorstellung einer inneren Höhlung als sexueller Körper des Mädchens. Die weibliche Identität sei eine somato-psychische Umhüllung, den Jungen dagegen definiere die Mutter anhand des Geschlechtsunterschiedes. Die unbewusst genitale Vorstellung der Mutter färbe das Ineinandergreifen von Brustwarze und Mund, Penis und Vagina. Der Penis ist bei Anzieu ein Objekt und die Vagina ein Ort.

In den 1970er Jahren verschob sich die Diskussion von der Frage der Geschlechtsorgane hin zur Frage der narzisstischen Entwicklung der Geschlechter. Arbeiten, wie die von Sherfey (1974), die die Erkenntnisse der damaligen Sexualwissensschaften aufarbeiteten, widerlegten endgültig die Annahme zweier Geschlechtsorgane der Frau. Klitoris, Labien und das untere Drittel der Vagina sind eine untrennbare Funktionseinheit, es gibt keinen vaginalen oder klitoridalen Orgasmus. Die Klitoris ist kein verkümmerter Penis, der männliche Embryo entwickelt sich aus dem weiblichen. Fleck (1969) konstatierte, dass mit der Aufgabe der Theorie zweier Geschlechtsorgane auch die Vorstellung einer passiven weiblichen Sexualität aufgegeben werden müsse. Mitscherlich-Nielsen (1975, S. 777) schlug vor, beim Knaben weiterhin von phallischer Phase zu sprechen, beim Mädchen aber von der klitoridal-vaginalen Phase. Gillespie (1975) fragte: Wenn die Klitoris nicht männlich ist, die Frau kein kastrierter Mann, warum kann dann die Klitoris nicht den Wunsch auslösen, penetriert zu werden?

Bei Chasseguet-Smirgel (1974) ist der Penisneid des Mädchens Abkömmling des Neides auf die allmächtige Mutter, mit der es nur erfolgreich rivalisieren kann, wenn es ein Organ hat, das dieser fehlt. Der Penis ist als Phallus ein narzisstisches Symbol für Macht und Omnipotenz. Er wird benutzt für eine Revolte gegen die Person, die als Ursprung der narzisstischen Kränkungen erscheint. Mit Omnipotenz kann die durch die Mutter zugefügte Kränkung wiedergutgemacht werden. Der Penis symbolisiert Kraft, Vollständigkeit und Autonomie. »Der Penisneid ist im Grunde nur symbolischer Ausdruck eines anderen Wunsches. Die Frau will kein Mann sein, sie will sich von der Mutter befreien und vollkommen, autonom, Frau sein« (ebd., S. 166).

Die Ausgangssituation des Mädchens, in der Mutter ein gleichgeschlechtliches Objekt zu haben, wird weiterhin als Ursache größeren Mangels, jetzt des narzisstischen Mangels, gesehen. Grunberger (1974b) zufolge sind die prägenitalen Stadien des Mädchens besonders frustrierend, da das mütterliche Objekt nur ein Ersatz für das adäquate Sexualobjekt ist, welches nur das gegengeschlechtliche sein kann. Die größeren Versagungen veranlassen das Mädchen, sich zurückzuziehen und sich selbst das zu geben, was die Mutter versagt, d. h., das Mädchen wird seinem Wesen nach narzisstisch. Der Narzissmus der Frau werde noch durch die Klitoris unterstützt. Während der Penis des Mannes nicht nur der Lust, sondern auch dem Urinieren diene, sei die Klitoris ausschließlich Lustorgan. Das Mädchen wendet sich früh dem Vater zu, was eine intensive Abhängigkeit von diesem fördert. Ähnlich Mitscherlich-Nielsen (1975, S. 786): »Zutreffend ist, dass der Knabe, der von der Mutter unmittelbarer angenommen und geliebt wird, der mit der Mutter zusammen sein männliches Glied idealisieren kann, in unserer Gesellschaft und bei unserer Art der Erziehung mehr Chancen hat, einen geglückten Narzissmus zu entwickeln als das Mädchen.«

Erst die Arbeit von Chodorow (1985, S. 143 ff.) stellt diesen scheinbaren Mangel des Mädchens in Frage. Weil sie dasselbe Geschlecht wie ihre Töchter haben und selbst einmal Mädchen waren, neigen Mütter von Töchtern, so Chodorow, dazu, diese nicht in gleicher Weise als verschieden von sich zu betrachten wie Mütter von Söhnen. Das Gefühl von Einheit und Kontinuität ist Töchtern gegenüber stärker. Die primäre Identifikation und Symbiose mit den Töchtern ist stärker und hält länger an, die Tochter wird als Erweiterung und Verdoppelung der Mutter gesehen. Mütter identifizieren sich mehr mit ihren Töchtern und empfinden sie als weniger separat. Die Mutter Sohn-Beziehung ist von Anfang an durch die geschlechtliche Verschiedenheit geprägt. Der Sohn wird von der Mutter stärker als Objekt gesehen, die Tochter als Erweiterung des Selbst. Das mütterliche Verhalten treibe den Sohn eher in eine sexualisierte, genital getönte Beziehung. Der Knabe muss sich im Gegensatz zum Mädchen früher von der Identifikation mit der Mutter lösen, er muss einen Identifikationswechsel vollziehen, d. h. er benötigt ein männliches Objekt, um die frühe Identifikation mit der Mutter abwehren zu können und männlich zu werden (vgl. Greenson 1968). Erstmals wird die Situation des Mädchens nicht mehr als Mangel gesehen, sondern auch als Vorteil gegenüber dem männlichen Geschlecht.

Entscheidend für die Verarbeitung der frühkindlichen Entwicklung ist nicht die anatomische Ausstattung, sondern das Erleben von kulturell vermittelten und von den Eltern verinnerlichten Fantasien und realen Spiegelungen, die sich um die Geschlechterdifferenz drehen und die vom Kind wiederum verinnerlicht werden. Es ist auch zu fragen, welche Institutionen und Riten eine Gesellschaft bereitstellt, um Entwicklungskrisen, zum Beispiel den Identifikationswechsel des Knaben, zu bewältigen.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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