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3 Alters- und geschlechtsspezifische Aspekte 3.1 Freuds phallischer Monismus

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Freuds Theorien (1924d; 1925j; 1931b; 1933a) zur männlichen und weiblichen Entwicklung gehen von einem biologisch bedingten Vorteil des Knaben aus und »ver-herr-lichen« die männliche Entwicklung. Die stärkere Anlage der Frau zur Bisexualität gehe aus der weiblichen Sexualentwicklung hervor, die bis in die phallische Phase hinein männlich sei, da sie unter dem Primat der Klitoris, d. h. einem dem männlichen Glied analogen Organ stehe. Freud zufolge beginnt das Primat der Vagina erst in der Pubertät. Die Frau hat nach Freud ein passives, weibliches und ein männliches, aktives Geschlechtsorgan. Die Weiblichkeit sei durch die Bevorzugung passiver Ziele, die Männlichkeit durch aktive Ziele gekennzeichnet. Ein weiteres zentrales Moment in der weiblichen Entwicklung sei der Penisneid, den Freud als primär betrachtet und der ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl in der Frau hinterlasse. »Irgendeinmal macht das kleine Mädchen die Entdeckung seiner organischen Minderwertigkeit, natürlich früher und leichter, wenn es Brüder hat oder andere Knaben in der Nähe sind« (ebd., 1931b, S. 524). Und: »Es bemerkt den auffällig sichtbaren, groß angelegten Penis eines Bruders oder Gespielen, erkennt ihn sofort als überlegenes Gegenstück seines eigenen, kleinen versteckten Organs und ist von da an dem Penisneid verfallen« (ebd., 1925j, S. 23). Beim Knaben löse der Anblick des weiblichen Genitals die Vorstellung einer Wunde, einer vollendeten Kastration aus. Kastrationskomplex und Penisneid sind bei Freud ein phylogenetisches Erbe, das mittels Erinnerungsspuren bewahrt geblieben ist. Der ursprüngliche Penisneid des Mädchens und die Kastrationsangst des Knaben werden allerdings auch bei Freud später durch Regression und Reaktionsbildungen verstärkt. Freuds Theorie wird als phallischer Monismus bezeichnet: »Auf der nun folgenden Stufe infantiler Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kastriert« (ebd., 1923e, S. 297).

Neben den Fantasien über die unterschiedliche organische Ausstattung machte Freud noch auf einen anderen, wesentlichen Unterschied zwischen Knaben und Mädchen aufmerksam. Am Ausgang menschlicher Entwicklung gibt es einen fundamentalen Unterschied: das erste Liebesobjekt des Kindes ist für das Mädchen ein gleichgeschlechtliches, für den Knaben ein gegengeschlechtliches. Freud sah im Penisneid der Mutter die Ursache für deren positivere Haltung dem Jungen gegenüber. »Nur das Verhältnis zum Sohn bringt der Mutter uneingeschränkte Befriedigung; es ist überhaupt die vollkommenste, am ehesten ambivalenzfreie aller menschlichen Beziehungen« (ebd., 1933a, S. 143).

Neben dem Wechsel der erogenen Zone, von der aktiv-männlichen Klitoris zur passiv-weiblichen Vagina muss das Mädchen bei Freud nicht nur den Wechsel von der Aktivität zur Passivität bewältigen, sondern auch noch sein Liebesobjekt wechseln. Der Abwendung von der Mutter gehe eine Lockerung des Verhältnisses durch Versagungen voraus. Der entscheidende Schritt von der Mutter hin zum Vater ist bei Freud jedoch eine Auswirkung des weiblichen Kastrationskomplexes. Mit der Entdeckung seiner Penislosigkeit erkennt das Mädchen seine organische Minderwertigkeit und die der Frau schlechthin. Die Liebe des Mädchens galt der phallischen Mutter, die Entdeckung, dass auch die Mutter kastriert ist, entwertet diese in den Augen des Mädchens. Zudem macht das Mädchen sie für die eigene Penislosigkeit verantwortlich. Aus dem Kastrationskomplex gibt es bei Freud drei Entwicklungen für das Mädchen: die Ablehnung von Sexualität, der Männlichkeitskomplex und der Weg in die normale Weiblichkeit. Es ersetzt den Wunsch nach einem Penis durch den Wunsch nach einem Kind, um die Weiblichkeit herzustellen. »Die weibliche Situation ist aber erst hergestellt, wenn sich der Wunsch nach dem Penis durch den nach dem Kind ersetzt, das Kind also nach alter symbolischer Äquivalenz an die Stelle des Penis tritt« (ebd., 1933a, S. 137).

Während der Kastrationskomplex des Mädchens den Objektwechsel und Ödipuskomplex einleite, beende der des Knaben den Ödipuskomplex und führe zur Bildung des Über-Ich. Bei Freud hat das Mädchen kein analoges Motiv, den Ödipuskomplex aufzulösen, es bleibe auf den Vater fixiert. Das Über-Ich des Mädchens ist nach Freud stärker personen- und situationsbezogen. »Man zögert es auszusprechen, kann sich aber doch der Idee nicht erwehren, dass das Niveau des sittlichen Normalen für das Weib ein anderes wird. Das Über-Ich wird niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern« (ebd., 1925j, S. 29).

Wir denken, dass Freud dezidiert die seiner Zeit zugrunde liegenden Fantasien analysiert hat, der Fehler, den er machte, war, diese Fantasien nicht als kulturbedingt, sondern als anatomisches Schicksal zeit- und kulturunabhängig zu postulieren. Bereits das grausame, seit Jahrhunderten bestehende Phänomen der Klitorisbeschneidungen in Afrika zeigt, dass hier ähnliche Fantasien die männliche Dominanz sicherstellen. Auch dort gilt die Klitoris als männliches, aktive Sexualität ermöglichendes Organ, das entfernt werden muss, damit die Frau weiblich wird. Bevor wir auf kulturelle Aspekte eingehen, möchten wir nun zuerst die Diskussion um Freuds Theorien zur Geschlechterdifferenz historisch nachzeichnen. Bereits in den 1930er Jahren lösten Freuds Theorien eine rege Diskussion aus. Unterstützt wurde Freud vor allem von Lampl de Groot, Marie Bonaparte und Helene Deutsch.

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend

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